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Erinnerung an Pogrom

Im August 1992 griffen Neonazis in Rostock-Lichtenhagen Flüchtlinge an: Polizei sah weg, Anwohner applaudierten, Bundestag schaffte Asylrecht ab

Von Markus Bernhardt *

Mit einer Großdemonstration wollen antirassistische Gruppen, Gewerkschaften und Die Linke am Wochenende in Rostock an den Jahrestag der gegen Migranten gerichteten Pogrome vor 20 Jahren erinnern. Im August 1992 hatte ein von der etablierten Politik aufgestachelter rassistischer Mob – von der anwesenden Polizei nahezu vollkommen ungestört – die Aufnahmestelle für Asylbewerber sowie ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter angegriffen. Über Tage hinweg gelang es mehreren hundert Nazis außerdem, unter Beifallsbekundungen der Bevölkerung mit Flaschen und Steinen Flüchtlinge zu attackieren und sogar Brandsätze auf das »Sonnenblumenhaus« in Rostock-Lichtenhagen zu werfen, in dem sich damals noch etwa 100 Migranten aufhielten.

Statt die Flüchtlinge vor dem braunen Mob zu schützen, zogen sich die damals eingesetzten Polizeieinheiten zurück. Es waren einzig autonome Antifagruppen aus den Reihen der mittlerweile aufgelösten »Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation« (AA/BO), die damals spontan in die Hansestadt mobilisiert hatten, um die Flüchtlinge vor den brutalen Gewaltexzessen der Neofaschisten zu beschützen.

Den rechten Ausschreitungen war eine hitzige Debatte über das bundesdeutsche Asylrecht und eine massive Stimmungsmache seitens des politischen Establishments gegen Flüchtlinge vorausgegangen. So fabulierten vor allem CDU und CSU über eine Schwemme von »Asylbetrügern« und stärkten mit ihrer rassistischen Propaganda neonazistische Parteien wie die DVU und die »Republikaner«, die in Folge des rechten Dauerfeuers Anfang der 1990er Jahre in verschiedene Landesparlamente einzogen.

Während Neofaschisten wie der heute immer noch aktive Christian Worch eigens nach Rostock gereist waren, um die Pogrome anzustacheln, machte die bundesdeutsche Politik tatsächlich »Autonome«, »Linksradikale« und – wie der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) – die zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal mehr existente Staatssicherheit der DDR für die Attacken verantwortlich. Ähnlich hatte sich auch Erwin Marschewski, damals innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, geäußert, der konstatierte, daß »die Stasi die Krawalle in Mecklenburg-Vorpommern mit angezettelt« habe, »um der Demokratie in den Rücken zu fallen«. Zudem nutzten Politiker aus den Reihen der Unionsfraktion, aber auch der SPD, die Ausschreitungen, um am 6. Dezember 1992 im Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP und SPD ein von ihnen als »Asylkompromiß« bezeichnetes Gesetz durchzupeitschen, welches die Rechte von Asylbewerbern massiv beschnitt.

Um an die Opfer der Gewalttaten 1992 zu erinnern, aber vor allem auch diejenigen zu benennen, die sich der Förderung und Instrumentalisierung rassistischer Ideologie und Gewalt schuldig gemacht haben, ruft ein breites Bündnis für den 25. August zu einer Kundgebung (11 Uhr, Neuer Markt) und einer Großdemonstration (14 Uhr, S-Bahnhof Lütten-Klein) in Rostock auf. Unterstützung erhalten die Nazigegner dabei unter anderem vom Liedermacher Konstantin Wecker und von Esther Bejarano, Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA). »Ich finde es wichtig genau dort zu demonstrieren, wo sich vor 20 Jahren dieses unfaßbare Pogrom ereignet hat. Es ist absolut notwendig, sich vor Ort damit auseinanderzusetzen, daß Nazis Menschen umbringen wollten, Nachbarn geklatscht haben und die Behörden keinen besonderen Grund zum Einschreiten sahen. Man kann doch nicht einfach so tun, als habe es das nicht gegeben«, erklärte die Auschwitz-Überlebende in einer Stellungnahme. Auch der Liedermacher Kai Degenhardt unterstützt den Aufruf zu den Protesten: »Von Lichtenhagen und Asylabschaffung bis zu Sarrazin und den staatlich gedeckten NSU-Morden: Wer die offen rassistische Entwicklung und gar nicht mal schleichende Faschisierung der letzten 20 Jahre endlich stoppen will, muß hier auf die Straße gehen.«

* Aus: junge Welt, Dienstag, 21. August 2012


"Eskalation von staatlichen Stellen provoziert"

Die Linke ruft zur Beteiligung an Protesten zum Jahrestag der rassistischen Übergriffe auf. Ein Gespräch mit Ida Schillen **


Verschiedene antifaschistische Organisationen mobilisieren für den 25. August zu einer bundesweiten Großdemonstration nach Rostock, um an die gegen Migranten gerichteten Pogrome 1992 im Stadtteil Lichtenhagen zu erinnern. Wie erklären Sie sich die damaligen Angriffe, bei denen die Polizei die rassistischen Gewalttäter vielerorts ungestört gewähren ließ, im Rückblick?

Es war eine brutale Form der unterlassenen Hilfeleistung seitens der lokalen staatlichen Verantwortungsträger. Diese behördliche Straftat wurde bis heute nicht geahndet. Es begann damit, daß die Flüchtlinge vor der Zulassungsstelle in Lichtenhagen im Freien ohne jedwede staatliche Hilfe campieren mußten. Es eskalierte in polizeilich geduldeten tagelangen menschenverachtenden Posen und Übergriffen durch eine rassistisch aufgebrachte Bevölkerung bis hin zum furchtbaren Brandanschlag auf das benachbarte Wohnhaus, in dem vietnamesische Familien lebten. Auch die Unterlassung ist eine bewußte Handlung und basiert auf einer Entscheidung. Insofern kann man durchaus davon sprechen, daß die Eskalation hier bewußt von staatlichen Stellen herbeigeführt wurde.

In Erklärungsversuchen wird häufig argumentiert, daß Polizei und Verwaltung überfordert gewesen seien. Das halte ich für eine unzulässige Schutzbehauptung, um sich der Verantwortung zu entziehen. Schließlich gab es funktionierende Verwaltungsstrukturen und Ressourcen, es gab Entscheidungsträger, die ihre Verantwortung auch durch einen anderen menschenwürdigen und offensiven Schutz der Flüchtlinge hätten wahrnehmen können, wenn sie denn gewollt hätten.

Hat sich das Klima für in Rostock lebende Flüchtlinge mittlerweile zum Positiven verändert?

Erschreckend ist, daß nach dem Lichtenhagen-Pogrom die damalige konservative Mehrheit des Bundestages unter Mithilfe der SPD das individuelle Grundrecht auf Asyl in Deutschland abgeschafft hat. Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für Flüchtlinge wurden drastisch verschärft. Insgesamt hat sich die Situation also dramatisch verschlechtert. Vor Ort in Rostock wurden nach dem Pogrom bessere Bedingungen geschaffen, u. a. auch durch die Möglichkeit, innerhalb der Heime in Wohnungen leben zu können.

Wie steht das Gros der Bevölkerung zu den geplanten antifaschistischen Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen?

In Folge des Pogroms haben sich neue antirassistische Initiativen und breite Bündnisse in Rostock gegründet, die seitdem die Antifa-Demos vor Ort unterstützen und auch jetzt zum Protest aufrufen. Ich finde es wichtig, daß aus dem Rathaus, aus den Parteien, den Gewerkschaften und Vereinen eine sichtbare und tatkräftige Unterstützung kommt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß Bewohner aus Lichtenhagen an den Antifa-Aktionen teilnehmen, selbst dann, wenn im Vorfeld Bedenken und Ängste vor den Demos geschürt werden.

Auch in Ihrer Partei sind offensichtlich einige Funktionsträger alles andere als begeistert über die Demonstrationspläne der Antifa. Gehen die Bedenkenträger nicht ein wenig zu weit?

Die Linke – vom Kreisverband Rostock bis zur Bundesebene – unterstützt sowohl die Demonstration als auch andere Gedenkaktivitäten. Der Bundesvorstand finanziert Demobusse von Berlin nach Lichtenhagen. Die Irritationen, die der Landesvorsitzende Steffen Bockhahn durch seine ablehnende Haltung gegen die Demo, unter Bezug auf vermeintliche Bürgerwünsche vor Ort in Lichtenhagen, ausgelöst hatte, sind inzwischen ausgeräumt. Im übrigen finde ich es gegenüber der Bevölkerung von Lichtenhagen unfair, wenn sie pauschal als Faustpfand dafür genommen wird, vom freien Demonstrationsrecht vor Ort Abstand zu nehmen.

Welchen Umgang mit dem Jahrestag des rassistischen Treibens würden Sie bevorzugen?

Ich hätte es bevorzugt, wenn der Bundestag 20 Jahre danach das individuelle Grundrecht auf Asyl wieder hergestellt und wirkungsvolle Zeichen gesetzt hätte, Asylsuchenden ein menschenwürdiges Leben in Deutschland zu garantieren, ohne Residenzpflicht und ohne Arbeitsverbot. Davon sind wir leider weit entfernt. Daher finde ich es wichtig, am 25. August in Rostock unter dem Motto »Für grenzenlose Solidarität« und gegen jede Form von Rassismus, Gewalt und Menschenverachtung zu demonstrieren.

Interview: Markus Bernhardt *

** Ida Schillen lebt in Rostock und ist Mitglied im Bundesvorstand der Partei Die Linke

Aus: junge Welt, Dienstag, 21. August 2012


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