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Europas Juden fühlen sich bedroht

Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte / Gedenken für Opfer der Pogromnacht *

In Europa lebende Juden sehen sich einem seit Jahren wachsenden Antisemitismus ausgesetzt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Befragung der EU-Agentur für Grundrechte (FRA), die am Vorabend des 75. Jahrestages der Novemberpogrome vorgestellt wurde. Demnach machen sich Juden in Europa zunehmend Sorgen um ihre Sicherheit. Antisemitismus sei »ein beunruhigendes Beispiel dafür, wie Vorurteile sich über Jahrhunderte halten können«, sagte FRA-Direktor Morten Kjaerum. 66 Prozent der Befragten halten laut FRA Antisemitismus für ein großes Problem in ihrem Land. Am stärksten sind die Ängste in Frankreich und Ungarn, wo fast die Hälfte der Befragten deshalb schon an Auswanderung dachte. In Deutschland trifft das auf jeden vierten Befragten zu. Jeder fünfte Teilnehmer der Umfrage habe in den letzten zwölf Monaten einen antijüdischen Vorfall erlebt. Am sichersten fühlen sich Juden noch in Großbritannien und Schweden. An der nicht repräsentativen Onlinebefragung beteiligten sich fast 6000 jüdische Bürger in acht Staaten, in denen 90 Prozent der europäischen Juden leben.

Am Freitag begannen in ganz Deutschland Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Pogromnacht. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 hatten Nationalsozialisten tausende jüdische Gebetshäuser, Geschäfte, Arztpraxen und Wohnungen angegriffen und zerstört; etwa 90 Menschen wurden ermordet. In der Folge wurden zehntausende Juden in Konzentrationslager verschleppt. Einer neuen Studie des US-Historikers Perry Margoles zufolge gab es in Deutschland vor der Pogromnacht über 2000 Synagogen und jüdische Gebetsräume – mehr als bisher vermutet.

Ebenfalls am Freitag veröffentlichten mehrere Zeitungen einen Aufruf zahlreicher jüdischer Organisationen, in dem vom neuen Bundestag die sofortige Anerkennung noch offener Ansprüche von NS-Opfern verlangt wird – beispielsweise von ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und von Überlebenden der »Euthanasie«-Programme. Statt bewegender Reden seien Taten gefragt. Die Politik dürfe nicht »vormittags an das tausendfache Leid von Sinti und Roma im Nationalsozialismus erinnern und nachmittags lebende Roma als Gefahr für unsere Sozialsysteme stigmatisieren«, heißt es in der Erklärung. Die vielen Denkmäler und Gedenkstätten für NS-Opfer »verfehlen ihren Zweck, wenn aus Erinnerung keine Verantwortung erwächst«.

Vor einem Bedeutungsverlust des 9. November als Gedenktag an die Pogrome hat der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, gewarnt. Häufig sei nur noch eine ritualisierte Betroffenheit zu erleben, sagte Graumann der »Neuen Osnabrücker Zeitung«. Er wünsche sich eine ehrliche emotionale Anteilnahme und rufe dazu auf, die Geschichte vor allem Kindern nahe zu bringen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 9. November 2013


Zur Antisemitismus-Studie

Der Jahresbericht der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) ist im Internet verfügbar: Antisemitism. Summary overview of the situation in the European Union 2002–2012 [englisch, pdf, externer Link]

Eine Pressemeldung in Deutsch kann hier aufgerufen werden:
FRA-Erhebung zu Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Jüdinnen und Juden in Mitgliedstaaten der EU [externer Link, pdf]

Die wichtigsten Ergebnisse des Berichts:

  • 66 % der Befragten halten Antisemitismus für ein großes Problem in ihrem Land und 76 % gaben an, die Situation habe sich in den letzten fünf Jahren deutlich verschlechtert.
  • 21% der Befragten haben in den zwölf Monaten vor der Erhebung antisemitischer Vorfälle wie Beschimpfung, Belästigung oder körperliche Angriffe erlebt. 2 % der Befragten wurden in dem Jahr vor der Umfrage Opfer antisemitisch motivierter körperlicher Angriffe.
  • Keine Anzeige: 76 % der Opfer antisemitisch motivierter Belästigungen meldeten die schwerwiegendsten Vorfälle weder der Polizei noch einer anderen Organisation.
  • Keine Aufzeichnung: begrenzte Datenerhebungsmechanismen in vielen EU-Mitgliedstaaten bedeuten, dass antisemitische Übergriffe nicht ausreichend aufgezeichnet werden.
  • Antisemitismus steht für die Befragten an vierter Stelle der bedrückendsten sozialen oder politischen Probleme in den Ländern der Erhebung.
  • Drei Viertel der Befragten halten Antisemitismus im Internet für ein Problem.
Anmerkung:
Die Ergebnisse für Deutschland fallen in fast allen Punkten positiver aus; d.h. Antisemitismus wäre danach in Deutschland weniger verbreitet als in den meisten anderen EU-Staaten.





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