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Notstand für Nazis

Sächsische Zustände in Baden-Württemberg: Antifaschisten in Pforzheim stundenlang bei Minusgraden von Polizei eingekesselt. Innenminister beklagt "unschöne Szenen"

Von Stefan Huth *

Ein historischer Tag in Pforzheim: Mit 1600 Beamten kam es am Samstag zum größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Stadt. Unter Zuhilfenahme von Pferden, Hunden und einem Hubschrauber schützte die Staatsmacht einen Aufzug von 95 Neonazis auf dem Wartberg vor den Protesten aufgebrachter Antifaschisten.

Seit zehn Jahren gedenkt Pforzheim offiziell der Opfer der alliierten Bombenangriffe vom 23. Februar 1945, bei denen Schätzungen zufolge 17600 Menschen ums Leben kamen. Bereits seit fast zwanzig Jahren zieht es auch Neonazis aus Anlaß dieses Jahrestages in die Stadt am Nordrand des Schwarzwalds. Als »Freundeskreis ›Ein Herz für Deutschland‹« provozieren sie dort regelmäßig mit einer »Fackel-Mahnwache« und bagatellisieren die Verbrechen des deutschen Faschismus.

Gegen den diesjährigen Naziaufmarsch, der am Samstag stattfand, demonstrierten am frühen Abend auf dem Pforzheimer Marktplatz rund 1300 Menschen. Bürgermeister Gert Hager (SPD) verurteilte den »schändlichen Mißbrauch« des Gedenktags durch die Nazis. Am Nachmittag hatte zuvor in der Innenstadt eine Kundgebung der »Inititative gegen Rechts«, einem breiten überparteilichen Bündnis, mit etwa 700 Teilnehmern stattgefunden. Dort wandte sich u.a. ver.di-Landeschefin Leni Breymaier, in einer Ansprache dagegen, »daß die Rechten diesen Tag mißbrauchen«.

Bereits im Vorfeld hatte die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Kai Hoffmann und Rüdiger Jungkind, die beiden Gründer der »Initiative gegen Rechts«, eingeleitet und Flugblätter des Bündnisses beschlagnahmen lassen. Karin Binder, MdB der Linkspartei und Teilnehmerin an den Protesten vom Samstag, hatte diese Schikanen in der vergangenen Woche als »Skandal« bezeichnet.

Teilnehmern einer anderen Demonstration erging es noch ärger: Als 600 Personen versuchten, sich dem Naziaufzug auf dem Wartberg zu nähern und diesen zu blockieren, wurde etwa die Hälfte von ihnen von Einsatzkräften der Polizei umstellt. Bei eisigen Temperaturen und Schneefall mußten die Festgehaltenen bis zu sechseinhalb Stunden in dem Kessel ausharren. Gegen 20 Uhr verkündete der Einsatzleiter über Megaphon – dokumentiert auf youtube – die Versammlung sei aufgelöst, es handle sich um eine »Notstandsmaßnahme im Sinne der Verwaltungsgerichtsordnung«. Aus Protest gegen die Schikane, die noch bis 23.30 Uhr andauerte, warfen einzelne Demonstrationsteilnehmer Schneebälle und kleinere Gegenstände in Richtung Polizei, die daraufhin fünf Personen festnahm.

Karin Binder bekundete am Sonntag gegenüber jW Respekt für die Demonstranten, die mit körperlichem Einsatz und »zivilem Ungehorsam« versucht haben, sich den Nazis entgegenzustellen. Mit friedlichen Bürgerprotesten auf Marktplätzen allein sei gegen die braune Brut nichts auszurichten. Zu einer anderen Einschätzung kam dagegen Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall (SPD): »Es darf nicht sein, daß Extreme, ob rechts oder links, diesen Gedenktag an die fürchterlichen Folgen des Angriffskrieges der Nazis für ihre Zwecke mißbrauchen», betonte er am Sonntag. Am Samstag hätten sich in Pforzheim «unschöne Szenen» zugetragen. Das Beispiel Sachsen scheint Schule zu machen.

* Aus: junge Welt, Montag, 25. Februar 2013


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