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"Der Skandal sind nicht die Nazis"

Über das schockierende Verhalten der Sicherheitsbehörden im Fall der Terrorzelle NSU. Ein Gespräch mit Ulrich Schneider *


Die Dachorganisation FIR besteht aus internationalen Organisationen ehemaliger Kämpfer gegen den Faschismus, Partisanen, Deportierten und Verfolgten sowie Antifaschisten heutiger Generationen. Wie beurteilen Sie die Situation in Deutschland nach den Enthüllungen über die neofaschistische Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)?

Wir stellen mit Entsetzen fest, daß Naziverbrecher nicht nur in Norwegen, Ungarn und einigen anderen osteuropäischen Ländern Gewalt ausüben. Auch in Deutschland gibt es ein rechtsterroristisches Netzwerk, das für eine ganze Reihe von Morden verantwortlich ist. Wir erhalten internationale Anfragen von Antifaschisten aus Ungarn, den Niederlanden und anderen Ländern. Die sind fassungslos, daß ausgerechnet in einem Land mit der Vergangenheit des Völkermords der Nazis an Juden und Andersdenkenden so etwas stattfinden kann, in einem Land also, in dem man zudem neuerlich stets davon ausgehen konnte, daß es über eine intakte Polizeistruktur und Rechtsordnung verfügt. Bestürzend ist insbesondere, daß diese Verbrechen staatlich gedeckt oder sogar mit staatlicher Beteiligung ermöglicht wurden. Unsere Mitgliedsorganisationen in anderen Ländern haben dies nicht für möglich gehalten. Der Neofaschismus ist von internationaler Bedeutung und muß weltweit bekämpft werden – er hat nun Ausdruck in Deutschland gefunden.

Wie schätzen Sie die Ausmaße dieses rechten Terrors ein?

Der Skandal sind nicht die mordenden Nazis, sondern das Verhalten von Behörden, die eigentlich dazu beitragen sollten, daß solche Verbrechen nicht geschehen. Sie sind sogar involviert, wie es für einen Rechtsstaat unvorstellbar ist: Beispielsweise, daß Ämter V-Leute führen, die sich in unmittelbarer Nähe zum Tatgeschehen befanden. Naheliegend ist, daß hier nicht nur Beziehungen zu neonazistischen Tätern bestanden, sondern vielmehr eine direkte Verquickung in deren verbrecherisches Tun. Das schockiert uns.

Der ehemalige Staatsschutzmitarbeiter und Begründer der Aussteigerorganisation für Neonazis »Exit«, Bernd Wagner, sprach vor einigen Tagen in der Frankfurter Rundschau von einer Liste mit Tausenden Namen und Privatadressen, die bei der Zwickauer Zelle gefunden wurde. Diese beinhaltet Informationen aus staatlichen Stellen, die normalerweise geheimgehalten werden. Welche Konsequenzen sind zu ziehen?

Zunächst muß sichergestellt werden, daß jegliche Zusammenarbeit von staatlichen Behörden dem Umfeld mit dieser Verbrecherbande sofort unterbunden wird. Verantwortliche all dieser Stellen müssen politisch hinterfragt werden, ob sie ihre Ämter ernst genommen haben – mit der Konsequenz, daß sie anderenfalls gehen müssen. Jegliche Verbindungen zwischen staatlichen Behörden und Nazis müssen sofort gekappt werden.

Soll der Verfassungsschutz aufgelöst werden?

Grundsätzlich hat die FIR darüber nicht zu befinden, ob die Behörde aufzulösen ist. Was uns aber betroffen macht und verärgert: Im Verfassungsschutzbericht von 2006 wird die FIR als »linksradikale Organisation« denunziert. Mit Blick auf die heutigen Informationen bekommt dieses Geschehen eine ganz eigene Bedeutung. Insofern hat die Institution keinerlei Glaubwürdigkeit und keine Möglichkeit mehr, ernsthaft Position zu beziehen. Konsequent wäre, sie aufzulösen.

Sie fordern erneut ein NPD-Verbot?

Wir unterstützen die Kampagne unserer deutschen Mitgliedsorganisation, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN–BdA), die fordert, die NPD jetzt zu verbieten. Es ist ein wichtiges politisches Signal, das Verbot jetzt auf den Weg zu bringen – auch ohne daß die Frage geklärt wäre, ob sich damit der faschistische Terrorismus und die Verbrechen erledigt haben. Da aber das Terrornetzwerk in enger Weise mit der NPD verbunden ist, und letztere mit erheblichen staatlichen Mitteln alimentiert wird, um ihre Arbeit zu machen ist klar, daß ein NPD-Verbot dem Rechtsterrorismus Wasser abgräbt. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichtes 2003, die NPD nicht verbieten zu können, weil sie vom Verfassungsschutz beobachtet werden, ist ein Grund mehr, V-Leute sofort abzuziehen.

* Ulrich Schneider, ist Generalsekretär der Fédération Internationale des Résistants (FIR – Internationale Föderation der Widerstandskämpfer)

Interview: Gitta Düperthal

Aus: junge Welt, 5. Dezember 2011



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