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"Die Terrorgruppe NSU ist keine Panne"

Rechte aufbauen und Linke schlagen ist seit je Maxime der BRD. "Nationalsozialistischer Untergrund" ist konsequente Folge dieser Politik. Ein Gespräch mit Gabriele Heinecke

Von Markus Bernhardt *


Sie sind seit Jahren in vielen politischen Verfahren als Rechtsanwältin tätig. Was hat Sie bewogen, als Anwältin zu arbeiten?

Zum einen mein (rechts-)politisches Interesse. Wie die Geschichte gezeigt hat, ist bürgerliche Demokratie nur eine Form der Aufrechterhaltung der Herrschaft des Kapitalismus. Bürgerliche, politische und soziale Rechte sind keine Selbstverständlichkeit. Sie sind erkämpft worden, und wenn man sie erhalten will, muß man sie verteidigen. Der Anwaltsberuf ist spannend und eine wunderbare Möglichkeit, das Interesse mit der Profession zu verbinden.

Zum anderen hat mich schon als Studentin beschäftigt, was der Staats- und Verfassungsrechtler Otto Kirchheimer in seiner Schrift »Politische Justiz« das »Drama aller Zeiten« genannt hat: inwieweit die Herrschaft die Unterwerfung und den Gehorsam derjenigen verlangen darf, »die ihren moralischen Anspruch und ihre Zukunftsperspektiven nicht anerkennen«, und inwieweit – von staatlicher Seite –, juristische Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken genutzt werden. Sich dem zu stellen, ist eine Herausforderung.

Welche Fälle sind Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben?

Viele. Eines der Verfahren, das mich am tiefsten beeindruckt hat, war ab 1991 das sogenannte »Politbüroverfahren«, in dem ich Willi Stoph verteidigt habe. Der Haftbefehl erging wegen des »Schießbefehls« an der Mauer, den es ausweislich des Akteninhalts nie gab. Die noch im Haftbefehl gebastelte Konstruktion des aktiven Tuns mußte in der Anklage darum in Totschlag durch Unterlassen umgewandelt werden, weil die Angeklagten von den Schüssen an der Mauer gewußt, sie aber nicht unterbunden hätten.

Der Schönheitsfehler der Anklage war, daß es Totschlag durch Unterlassen in der DDR als Rechtsinstitut nicht gab, so daß er nach dem Grundsatz »nulla poena sine lege« – also keine Strafe ohne Gesetz – nicht hätte bestraft werden dürfen. Diese Rechtsgrundsätze gingen allerdings in der Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofes unter, der unter Anwendung des »Naturrechts« die Verurteilungen bestätigte. Inhaltlich wurde argumentiert, die Gesetzeslage in der DDR tauge wegen des unerträglichen Widerspruchs zur Gerechtigkeit nicht als Rechtfertigung. Willi Stoph wurde nach fünfzehnmonatiger Untersuchungshaft aus gesundheitlichen Gründen entlassen und war in der Folge verhandlungsunfähig.

Sie haben auch den damals jungen libanesischen Flüchtling Safwan E. verteidigt, der angeklagt war, am 18. Januar 1996 seine eigene Flüchtlingsunterkunft in Lübeck in Brand gesetzt zu haben. Schon damals war der rassistische Geist, der in vielen bundesdeutschen Behörden noch heute sehr ausgeprägt ist, deutlich spürbar. Welche Erinnerungen haben Sie an den damaligen Prozeß?

Schon die Inhaftierung war ein Skandal. Safwan E. wurde als letzter der Bewohner in der Lübecker Hafenstraße vom Dach des Hauses im dritten Stock gerettet. Zehn Menschen starben, über dreißig wurden zum Teil schwer verletzt, darunter auch die Mutter und der kleine Bruder von Safwan E. Das Feuer sollte nach der Phantasie der Staatsanwaltschaft im ersten Stock ausgebrochen sein. Ein Sanitäter, der die verbrannten Ohren von Safwan E. in einem Verletztenbus behandelt hatte, hatte behauptet, er habe während der Fahrt zu dem Krankenhaus gesagt »Wir warn’s«. Die Geschichte des Sanitäters war erfunden.

Allerdings befanden sich zur Tatzeit am Tatort drei junge Männer aus der rechtsradikalen Szene Grevesmühlens, ein vierter befand sich in der Nähe an seinem Auto. Drei der vier wiesen typische Brandlegerspuren im Gesicht, den Haaren und den Händen auf. Sie erzählten abstruse Geschichten über deren Herkunft. Später haben zwei der vier immer wieder gestanden. Das hat aber keine Anklage, sondern die aktive Intervention der Polizei und der Staatsanwaltschaft zur Folge gehabt, damit die Geständnisse zurückgenommen wurden.

Nach dem Bekanntwerden der Zusammenarbeit staatlicher Stellen mit Mitgliedern der faschistischen Vereinigung »Nationalsozialistischer Untergrund« wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt. Bis heute vergeblich.

Im Fall des am 7. Januar 2005 in einer Gewahrsamszelle des Polizeireviers Dessau am hellichten Tag verbrannten Oury Jalloh aus Sierra Leone haben Sie vor dem Landgericht Magdeburg die Mutter und den Bruder in der Nebenklage vertreten. Erst am 13. Dezember ging der Prozeß gegen einen Dessauer Polizisten zu Ende. Antirassistische Organisationen haben den Tod Jallohs mehrfach als Mord gebrandmarkt. Was denken Sie?

Anfangs war ich von der Mordthese nicht überzeugt. Im Verlauf dieses Verfahrens allerdings haben sich Tatsachen ergeben, die der These einer Selbstentzündung völlig widersprechen. Ich halte es inzwischen für wahrscheinlich, daß er zum Zeitpunkt der Brandlegung bewußtlos war. Bei dem von der Staatsanwaltschaft und dem Gericht angenommenen Szenario hätten erhöhte Werte von Streßhormonen bei ihm gefunden werden müssen. Das war nicht der Fall. Zusätzlich gibt es Hinweise auf die Verwendung von Brandbeschleunigern. Dazu haben wir noch im Dezember Anträge gestellt, doch das Gericht wollte dem nicht mehr nachgehen.

Sie haben sich auch für eine Entschädigung griechischer NS-Opfer eingesetzt. Wie hat es auf die Griechinnen und Griechen gewirkt, daß sich die Bundesrepublik beharrlich weigert, griechische Opfer von deutschen Kriegsverbrechen zu entschädigen?

Es gibt eine große Zahl Betroffener, die sich durch die harte Linie der Bundesrepublik Deutschland tief verletzt und gedemütigt fühlen. Dabei geht es ihnen – so arm sie auch sind – nicht in erster Linie um die Entschädigung, sondern um mehr als nur Krokodilstränen deutscher Politiker.

Auf den Widerstand des griechischen Volkes, den Partisanenkrieg, reagierten die deutschen Soldaten mit grausamen »Vergeltungsaktionen« gegen die Zivilbevölkerung. Mindestens 30000 Menschen wurden Opfer dieses Terrors, Hunderte von Ortschaften wurden zerstört. Die Verbrechen wurden nie strafrechtlich verfolgt. Die griechischen Opfer der von Wehrmacht und SS begangenen Massaker haben bis zum heutigen Tag keine Entschädigung erhalten. Trotz rechtskräftiger Verurteilung durch den Aeropag in Athen zur Zahlung von umgerechnet 28 Millionen Euro an die Opfer des Massakers von Distomo passierte nichts. Auf die anwaltlichen Maßnahmen der Zwangsvollstreckung gegen deutsches Staatseigentum in Griechenland und später in Italien zog Deutschland vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Im Februar 2012 hat es die Feststellung durchsetzen können, daß Deutschland Immunität gegenüber den in Griechenland und Italien erhobenen Klagen der griechischen Opfer der NS-Verbrechen genießt, also Staatenimmunität für NS-Kriegsverbrechen. Das war für die Betroffenen schockierend. Deutschland ist rechtlich und moralisch verpflichtet, endlich eine angemessene Entschädigung zu zahlen.

In Italien sieht es jedoch nicht anders aus. Während dort immerhin seit 1996 unter Hochdruck die faschistischen Verbrechen strafrechtlich aufgearbeitet werden, verschleppte die Staatsanwaltschaft Stuttgart über zehn Jahre die Ermittlungen bezüglich des von SS-Einheiten begangenen Massakers an 560 italienischen Zivilisten in Sant’Anna di Stazzema. Das Verfahren wurde mittlerweile ganz eingestellt. Die Behandlung dieses Verbrechens durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart, konkret durch den Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, war völlig unangemessen. Er behauptet, daß es sich bei dem SS-Massaker nicht um Mord gehandelt habe. Es wurden Frauen, Kinder und alte Menschen auf dem Kirchvorplatz zusammengetrieben. Es war offensichtlich, daß das Töten dieser Menschen ein Kriegsverbrechen war. Die Massenerschießungen, das Verbrennen von Menschen am lebendigen Leib geschah nicht spontan aus einer Laune heraus, sondern auf Befehl. Und dieser Befehl war ersichtlich verbrecherisch, er durfte nicht befolgt werden. Es muß also bei den Tätern, die Mitglieder einer SS-Einheit waren, eine innere Haltung gegeben haben, die diesen Befehl befürwortet hat. Die Motivation zum grausamen Töten mit gemeingefährlichen Waffen – Maschinengewehren – und aus einer auf unterster Stufe stehenden Gesinnung erfüllt gleich drei Mordmerkmale. Dieses Massaker war Mord, und es ist nicht verjährt. Das alles versucht die Staatsanwaltschaft Stuttgart in ihrer 159seitigen Einstellungsverfügung mit vielen Worten zu vernebeln. Hoffen wir, daß diese Unrechtsentscheidung nicht das letzte Wort der Justiz Baden-Württembergs ist.

Sie nehmen am Sonnabend an der von junge Welt veranstalteten Rosa-Luxemburg-Konferenz teil, bei deren Abschlußpodium über Konsequenzen aus der Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) diskutiert werden soll. Haben wir es Ihrer Meinung nach in Sachen NSU tatsächlich mit Pannen der Geheimdienste und der Polizei zu tun, oder wurde neofaschistische Gewalt seitens der Behörden gefördert und bewußt weggesehen?

Es ist an der Zeit, über die Ursachen für die Verquickung staatlicher und faschistischer Organisation nachzudenken. Es ist daran zu erinnern, daß nach den Vorgaben der Alliierten, nach dem Potsdamer Abkommen, nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10, nach den Polizeibriefen der Militärgouverneure an den Parlamentarischen Rat, dieses Land nie wieder nazistische, faschistische, militaristische Organisationen hätte dulden dürfen.

Wenn das Verbotsverfahren gegen eine militant-faschistische Organisation wie die NPD daran scheitert, daß sie mit V-Leuten durchsetzt und eine staatliche Fremdsteuerung denkbar ist, muß man sich vergegenwärtigen, daß es in diesem Land viele schöne Worte, aber nie einen Bruch mit der Vergangenheit gegeben hat. Der neue Staat wurde mit dem Personal des alten bestückt, in den Behörden, der Justiz und beim Aufbau der Geheimdienste. Die später in BND umbenannte Organisation Gehlen bestand gerade an den Schaltstellen aus ehemaligen Mitgliedern der SS, der SA, des SD, der Gestapo. Das Motto war, die Rechte aufzubauen und die Linke zu schlagen. Der NSU ist keine Panne, er ist eine konsequente Folge dieser Politik.

Sehen Sie vor diesem Hintergrund überhaupt Chancen, die Verstrickungen zwischen dem NSU-Netzwerk und den Geheimdiensten und Polizeibehörden – zumindest juristisch – aufzuarbeiten?

Ich habe Zweifel. Die Aufschreie der Empörung auf die jeweils neuesten Nachrichten über geschredderte Akten sind fast schon komisch. Die Öffentlichkeit wird am Nasenring herumgeführt, wenn glauben gemacht werden soll, daß diese kriminellen Aktionen der Beweismittelvernichtung Pannen sind. Daß im Rahmen der Aufklärung der Mordvorwürfe gegen Frau Zschäpe vor dem Oberlandesgericht München die Verstrickungen von staatlichen Stellen und NSU Gegenstand sein wird, wage ich kaum zu hoffen.

* Gabriele Heinecke ist Fachanwältin für Arbeits- und Strafrecht und lebt in Hamburg. Am Samstag nimmt sie teil an der Podiumsdiskussion der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin

Aus: junge Welt, Dienstag, 08. Januar 2013


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