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Strategie der Spannung

Analyse. Der "Nationalsozialistische Untergrund" ist, gemessen an seinen Zielen, nicht vollständig gescheitert – vor allem deshalb, weil die deutschen Behörden genau so reagierten, wie es zu erwarten war

Von Sebastian Carlens *

Am 22. Dezember 2011, knapp zwei Monate nach der Selbstenttarnung der Zwickauer Neonaziterrorzelle, veröffentlichte das Bundeskriminalamt einen Bericht zur Gefährdungslage »politisch motivierte Kriminalität – rechts«. Das der jungen Welt vorliegende zehnseitige Dokument, als »Verschlußsache – nur für den Dienstgebrauch« klassifiziert, kommt zu folgender dramatischen Einschätzung der aktuellen Situation in Deutschland: »Die seit Anfang November 2011 gewonnenen Erkenntnisse im Ermittlungskomplex ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU) erfordern eine Neubewertung der Gefährdung im Phänomenbereich der politisch motivierten Kriminalität (PMK) – rechts.« Weiter heißt es: »Einzelne terroristische Aktionen, u. a. auch durch selbstradikalisierte Einzeltäter, aber auch die Bildung terroristischer Kleingruppen innerhalb des rechten Spektrums z. B. nach Vorbild des NSU müssen grundsätzlich in Betracht gezogen werden. (…) Spektakuläre Anschläge und Mordserien können zu Nachahmungstaten führen«.

Neonazis sind gefährlich. Und mordende Neonazis könnten Vorbildcharakter für ihre Kameraden annehmen. Damit auch das Bundeskriminalamt zu dieser Erkenntnis gelangen konnte, mußten zehn Menschen sterben – ein hoher Preis, denn diese Einsicht wäre auch früher zu haben gewesen. Die Opferwahl der NSU-Terroristen ist schließlich keineswegs einmalig: Am 7.3.2005 stufte beispielsweise das Brandenburgische Oberlandesgericht eine Gruppe um den damals 20jährigen Abiturienten H. als terroristische Vereinigung ein. H. und fünf Gesinnungsgenossen hatten zwei Jahre zuvor das »Freikorps Havelland« gegründet. Ziel der Gruppe: Vertreibung aller Ausländer zunächst aus dem brandenburgischen Havelland, später aus ganz Deutschland. Erreichen wollten die Neonazis dies durch systematischen Terror gegen die Geschäfte von Migranten – mit Brandanschlägen auf Imbißbuden, um die Existenzgrundlage ihrer Opfer zu vernichten. 70 mal schlugen die jugendlichen Terroristen zu; zehn Imbißbuden gingen in den Jahren 2003 und 2004 in Flammen auf. Die Terrorwelle endete, als die Polizei die Gruppe dingfest machte. H. wurde als Rädelsführer zu viereinhalb Jahren Haft, seine Komplizen als Gründer und Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu Bewährungsstrafen zwischen acht Monaten und zwei Jahren nach Jugendstrafrecht verurteilt. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil im Jahr 2006. Auch wenn das »Freikorps Havelland« keine Menschen ermordet hat – Opferwahl und Impetus der Taten ähneln der Spur der Gewalt, die der NSU durch Deutschland zog.

Klima der Angst

Eine »Strategie der Spannung«, die Mißtrauen unter den Opfern sät, Bevölkerungsteile gegeneinander ausspielt, Menschen ihre ökonomische Grundlage raubt, sie in Todesangst versetzt – und sie damit schließlich zum Verlassen des Landes zwingt: Dazu sind nicht einmal Bekennerschreiben vonnöten. Es genügt, ein Klima der Angst zu schaffen. Und dies funktioniert umso effektiver, wenn ausreichend Raum für Spekulationen bleibt. Hat die »Ausländermafia« ihre Finger im Spiel? Geht es um Drogen, Zuhälterei? Haben die Familien, die Freunde der Opfer etwas mit der Tat zu tun? Setzen sich alte Fehden aus den Heimatländern der Toten in Deutschland fort? Wie zermürbend solche Verdächtigungen sind, können die Angehörigen der Opfer des NSU bestätigen. Ihnen setzten die Ermittler jahrelang mit abgefeimten Verdächtigungen zu: Den Frauen der Toten wurden vermeintliche Affären ihrer Männer vorgehalten; die Verwandten wurden mit aus der Luft gegriffenen Verdächtigungen über ihre ermordeten Väter, Brüder und Söhne gequält. Die Polizei verwanzte die privaten Autos der Opferfamilien, setzte verdeckte Ermittler im familiären Umfeld ein, streute gezielt Gerüchte mittels »Privatdetektiven«, die das Umfeld der Toten ausforschten. Die deutsche Polizei leistete so ihren Beitrag dazu, daß die Terroristen ihrem Ziel näher kamen: durch genügend Terror das ganze Land in eine »No-Go-Area« zu verwandeln. Bei aller notwendigen Diskussion über eine Verquickung deutscher Behörden mit dem NSU wird gerne übersehen, daß das zu erwartende Verhalten der Ämter selbst schon integraler Bestandteil der Terrorstrategie ist: Deutsche Beamten funktionieren genau nach einem Muster, das der russische Physiologe Iwan Pawlow als »bedingten Reflex« bezeichnete: Ein Schlüsselreiz löst ein bestimmtes Verhalten aus. Der absehbare Reflex der Beamten auf ermordete Migranten: Auch die Täter müssen Ausländer sein. Mit dieser polizeilich verinnerlichten Vorverurteilung gerät die Spirale in Gang, die letztlich die Opfer zu Tätern macht – und den Taten der Neonazis damit nachträglich zum Erfolg verhilft.

Vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestags zur Terrorzelle mußte mittlerweile eine ganze Phalanx Polizisten aussagen, und ihre Auftritte waren keine Sternstunde für die deutsche Exekutivgewalt. Insbesondere die Befragung des BKA-Chefs Jörg Ziercke dürfte den Ausschußmitgliedern noch lange in Erinnerung bleiben. Ziercke wurde im Juni vor allem deshalb vernommen, weil den Obleuten des Ausschusses nicht einleuchten wollte, warum die Ermittlungen zu einer Mordwelle, die Opfer in fünf Bundesländern fand, nicht durch das BKA zentralisiert wurde. Statt dessen ermittelte eine bayerischen Einheit, die »besondere Aufbauorganisation« (BAO) Bosporus unter dem leitenden Kriminaldirektor Wolfgang Geyer. Eine Ermittlungsübergabe an andere polizeiliche Stellen treffe für gewöhnlich auf »erhebliche Befindlichkeiten«, berichtete Ziercke, »da muß schon was außergewöhnliches passieren«. Eine Mordwelle mit ein- und derselben Waffe, ausschließlich an Migranten begangen, gehörte wohl nicht dazu. Der Fall blieb bei der BAO Bosporus, das BKA wurde nur unterstützend hinzugezogen. Doch auch Zierckes Behörde wandelte im Nebel. In ihrer Not überprüften die Fahnder alle Suizidfälle des Jahres 2006 – in diesem Jahr endete die Mordserie an Migranten abrupt. Auskünfte eines Profilers hätten nahegelegt, daß Serienmörder eine erhöhte Neigung zum Selbstmord aufwiesen, berichtete Ziercke. Das überraschende Ende der Serie begründete er schließlich mit einer ausgesetzten Belohnung, die die Mörder wohl in Angst vor Verrat versetzt hätte. Die Täter konnten zwar nicht gefaßt werden, doch es sei die »gute Arbeit« der Ermittler gewesen, die weitere Morde verhindert habe, spekulierte Ziercke. Gegenüber dieser Chuzpe platzte dem Ausschußvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) der Kragen: »Hochmut« sei »im Ausschuß fehl am Platz«, rüffelte er den BKA-Chef. Doch auch davon ließ sich Ziercke, der Experte, nicht beirren: »Mir hat die Praxis Recht gegeben«.

Fokus »Ausländerkriminalität«

Das Fehlen von Bekennerschreiben nach den Taten des NSU war eines der Hauptargumente, das die vor den Untersuchungsausschuß geladenen Polizisten als Begründung für ihren falschen Fahndungsansatz »im Bereich der Ausländerkriminalität« anführten. Kriminaldirektor Geier, damals Leiter der BAO Bosporus, umriß die Ausgangslage seiner Ermittlungen vor dem Untersuchungsausschuß folgendermaßen: »Sieben Opfer, sechs davon Türken. Keinerlei verwertbare Tatortspuren, kein Motiv, keine Verbindung zwischen den Opfern.« Geyers BAO konzentrierte sich auf die nationale Herkunft der Toten, befragte über 900 türkischstämmige Gewerbetreibende nach »sachdienlichen Hinweisen«, prüfte sogar eine mögliche Verstrickung türkischer Geheimdienste. Dem 2004 in Rostock ermordeten Mehmet Turgut wurden »Verbindungen ins Hamburger Drogenmilieu« unterstellt – sein Bruder hatte in der Hansestadt gelebt. Kriminaldirektor Geyer reiste schließlich gar in die Türkei, der Bundesnachrichtendienst (BND) sollte später die Auskünfte, die er von der türkischen Terrorabwehr erhielt, überprüfen. Das alles konnte natürlich zu nichts führen. Doch auch diese Mutmaßungen fanden rasch ihren Weg in die Öffentlichkeit – mittels der Massenmedien, die für die Mordwelle den handlichen Begriff der »Dönermorde« erfanden. Auch das war kein Zufall, denn die Polizei bediente sich einer Medienstrategie, um den Informationsfluß in die Öffentlichkeit zu steuern.

Hypothesen, die der Wahrheit näher kamen, standen der Polizei auch vorher schon zur Verfügung – von ihnen wurde lediglich kein ausreichender Gebrauch gemacht. Insgesamt vier Fallanalysen gab die BAO Bosporus in Auftrag; der Profiler Alexander Horn war tatsächlich auf der richtigen Spur: Er ging von einem »missionsgeleiteten Täter« aus, der aus Ausländerhaß töte. Zwei FBI-Agenten, die »zu Besuch« im Lagezentrum der BAO waren, bestätigten Horn, »auf dem richtigen Weg« zu sein. Die FBI-Männer versuchten sich im Juni 2007 an einer eigenen Einschätzung der Mordserie. Ihre Erkenntnis: Der oder die Täter handelten aus »Aversion gegen Türken«; sie seien sehr mobil. Es ergebe sich ein »klarer Verweis auf einen rechten Hintergrund«. Horns Theorie stieß im Amt jedoch nicht nur auf Gegenliebe. Nur wenige Wochen nach seinem Gutachten wurde ein Gegengutachten, das dritte zu diesem Fall, in Auftrag gegeben. Resultat wie gehabt: Die Täter seien im Bereich der »organisierten Kriminalität/Ausländer« zu verorten.

Die Vermutung eines rechtsextremen Hintergrundes wurde in der Öffentlichkeit bewußt unterdrückt. Wolfgang Geyer berichtete dem Ausschuß, daß das bayerische Innenministerium die »Gefahr einer Hysterie unter türkischen Kleingewerbetreibenden« gesehen und daher entschieden habe, keine Informationen über ein mögliches rechtes Tatmotiv zu veröffentlichen: »Was glauben Sie, was passiert wäre, wenn wir gesagt hätten, da fahren Rechtsradikale durch Deutschland und knallen Ausländer ab?« Das eben ist eine spannende Frage: Bereits im Jahr 2004, nur zwei Wochen nach dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße, tauchte in der Straßenbahn der Stadt ein Flugblatt auf, das den Anschlag als ein »Zeichen von Protest, eine Warnung« bezeichnete. Es endet mit den Worten: »Deutsche, wehrt euch.« Der Leiter der BAO kannte das Flugblatt nicht. Doch die Migranten in Deutschland waren schneller als die Polizei: Nach dem neunten Mord fand 2006 in Kassel eine Demonstration unter dem Motto »kein zehntes Opfer« statt. Die Teilnehmer der Demonstration waren überzeugt, es mit rassistischen Tätern zu tun zu haben. Ihre Warnungen wurden überhört; es sollte noch viele Jahre dauern, bis der NSU selbst – durch den mutmaßlichen Suizid zweier seiner Mitglieder – den wahren Hintergrund der Taten öffentlich machte.

Der »kleine Adolf«

Der Bundestagsausschuß zur Terrorzelle mußte sich im ersten halben Jahr seiner Tätigkeit vor allem mit Polizisten befassen, denen augenscheinlich das Verständnis dafür fehlt, wem sie in diesem Staat eigentlich rechenschaftspflichtig sind: Die Obleute erlebten »Experten«, die auf kritische Fragen zu ihrer Tätigkeit in der Regel beleidigt oder aggressiv reagierten. Nach der Sommerpause des Bundestages Mitte September wird auch der parlamentarische Untersuchungsausschuß seine Arbeit wieder aufnehmen. Da das Gremium die Taten des NSU chronologisch behandelt, werden dann auch der Fall des Verfassungsschützers Andreas Temme, der während des neunten Mordes an einem Kasseler Internetcafebesitzer am Tatort anwesend war, und die wohl ominöseste Tat der Terrorzelle auf der Tagesordnung stehen: Der Polizistenmord von Heilbronn. Letzteres Verbrechen, das nach Funden von DNA-Spuren der ermordeten Polizistin Michéle Kiesewetter an einer Hose des Terroristen Uwe Mundlos der Terrorzelle zugeordnet werden kann, fällt aus dem Rahmen. Zwischen 2000 und 2006 töteten die NSU-Terroristen mutmaßlich neun Menschen, darunter acht Migranten türkischer Herkunft und einen Griechen. Dabei benutzen sie stets zwei Pistolen, eine Radom und eine Ceska. An den ersten Tatorten hinterließen die Mörder noch Patronenhülsen, später perfektionierten sie ihr Vorgehen – die Polizei konnte überhaupt keine Spuren mehr finden. Der letzte Mord an einem Migranten im April 2006 in Kassel endete mit der Festnahme eines Verdächtigen – des hessischen Verfassungsschützers Andreas Temme. Temme, in seiner Behörde unter dem Spitznamen »kleiner Adolf« bekannt, hatte sich verdächtig gemacht, da er als einziger Zeuge einem Aufruf der Polizei nicht gefolgt war. Eine spätere Auswertung des Computers, den er im Internetcafe benutzt hatte, bewies seine Anwesenheit während der Tat. Die Polizei nahm Temme fest, durchsuchte seine Wohnungen und stellte einige Indizien sicher: faschistisches Schriftgut, illegal erworbene Munitionsvorräte und Schmauchspuren an seiner Kleidung – allerdings so viele verschiedene, daß daraus keine Rückschlüsse mehr auf einzelne Waffen gezogen werden konnten. Temme selbst beteuert bis heute seine Unschuld; er sei »zur falschen Zeit am falschen Ort« gewesen. Daß er mit einem Freispruch aus der Sache herauskam, hat er nicht zuletzt der Schützenhilfe der hessischen Politik zu verdanken: Mit Verweis auf die »Sicherheit des Landes Hessen« blockierte der damalige Innenminister Volker Bouffier (CDU) eine Befragung der V-Leute, die Temme beruflich betreute – darunter, neben vier Islamisten, auch ein Kasseler Neonazi. Mit eben jenem Nazi hatte Temme zehn Minuten vor dem neunten NSU-Mord telefoniert, bevor er sein Amt verließ und zu besagtem Internetcafe fuhr. Auch die Personalakte des Beamten beim Landesverfassungsschutz durften die Ermittler nicht einsehen: Wieder stand »die Sicherheit des Landes Hessen« auf dem Spiel. Sowohl Temme als auch Volker Bouffier, der mittlerweile hessischer Ministerpräsident ist, werden nach der Sommerpause vor dem Ausschuß antreten müssen. Mit dem Mord im Kasseler Internetcafe und der kurzzeitigen Festnahme Temmes endete die Migrantenmordserie. Der NSU tauchte erneut ab und beging ein Jahr lang keinen weiteren Anschlag.

Pannen nach Polizistenmord

Am 25. April starb die 22jährige Streifenpolizistin Michéle Kiesewetter am Rande der Heilbronner Festwiese durch einen Kopfschuß, ein Kollege überlebte schwer verletzt. Die Jagd nach dem Polizistenmörder von Heilbronn reiht sich nahtlos ein in eine ganze Serie von Fahndungspannen. Und doch unterscheidet sich die Tat von den vorangegangenen neun Morden: Die Opfer waren deutsche Polizisten. Zumindest bei Morden an Kollegen steht für gewöhnlich außer Zweifel, daß die ermittelnden Beamten nichts unversucht lassen, um den Täter zu fassen. Umso unverständlicher, warum sich auch bei der Suche nach dem Mörder Kiesewetters ein dilettantischer Fehler an den nächsten reihte. Nur Minuten nach dem Anschlag auf die Polizisten rasten Streifenwagen zu den verschiedenen Alarmpunkten rund um den Tatort, ihre Besatzungen notierten die Kennzeichen vorbeifahrender Wagen. 201 Listen wurden insgesamt erstellt, 33000 Kennzeichen kamen so zusammen. Dann aber verschwand das Material in Aktenordnern: Drei Jahre lang griff die Sonderkommission nicht auf die Listen zurück, obwohl noch immer eine heiße Spur zu den Mördern fehlte. Erst am 14. August machten sich zwei Polizistinnen daran, das Archiv zu durchforsten und auch die notierten Autokennzeichen stichprobenhaft zu untersuchen. Dabei mußten sie feststellen, daß die handschriftlichen Listen »unvollständig elektronisch erfaßt« worden waren. Das computergestützte Fahndungssystem CRIME konnte die Sammlung nur zum Teil scannen; manche Datensätze waren »komplett« verschwunden, berichtete der Focus im Mai. Zu den verloren gegangenen Dateien gehörten ausgerechnet die Aufzeichnungen der Böblinger Polizisten, zu deren Einheit auch Kiesewetter gehörte. Eine Feststellung der Fahrzeughalter fand überhaupt nicht statt.

Wenn die Kennzeichen überprüft worden wären, hätten die Fahnder möglicherweise schon 2007 die Polizistenmörder fassen können: Am Alarmpunkt LB 3 erfaßten Streifenpolizisten als zwanzigstes vorbeifahrendes Fahrzeug ein Wohnmobil mit dem Kennzeichen Chemnitz – PW 87. Der Wagen stammte von einem Fahrzeugverleih, der Mieter des Caravans war Uwe Böhnhardt. Gemeinsam mit Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bildete er den »Nationalsozialistischen Untergrund«. Doch mit dieser unglaublichen Panne endet das Versagen im Fall Heilbronn nicht. Jahrelang jagte die Polizei einem »Phantom« hinterher, das etliche schwerste Straftaten auf dem Kerbholz haben sollte – die DNA des weiblichen mutmaßlichen Topverbrechers wurde auch am Tatort in Heilbronn gefunden. Diese »Spur« war jedoch selbst gelegt, denn die Beamten hatten kontaminierte Wattestäbchen bei der Spurensicherung benutzt – hinter dem »Phantom« steckte eine harmlose Arbeiterin der Firma, die diese Stäbchen verpackte. Weitere Spuren, die tatsächlich zu den Tätern hätten führen können, wurden erst gar nicht berücksichtigt, so ein Handabdruck auf dem Streifenwagen Kiesewetters und DNA-Fragmente an den Uniformen der Opfer. Da auch kein – ansonsten üblicher – DNA-Abgleich mit den an der Untersuchung beteiligten Polizisten durchgeführt wurde, um so die Gruppe potentieller Täter einzugrenzen, war auch mit diesen Spuren nichts anzufangen. Statt dessen stocherte die Polizei im Trüben: Zwischen Mai 2007 und Januar 2008, so der Focus, überwachte das BKA sämtliche Besucher der Webseite der Polizeidirektion Heilbronn – in der Hoffnung, daß auch der Mörder sie besuchen könnte. Bei »auffällig häufigen« Klicks von ein- und demselben User ließ das BKA über die Provider die persönlichen Daten des Internetnutzers ermitteln. Obwohl der eigentlich nötige Gerichtsbeschluß zur Datenfreigabe nie eingeholt wurde, spielten sämtliche Internetprovider außer der Telekom das Spielchen mit. Doch auch diese - im Graubereich des Zulässigen angesiedelte - Maßnahme ergab keine Ansätze.

Der Fall Kiesewetter fällt aus dem Rahmen: Das Opfer, eine deutsche, politisch nie in Erscheinung getretene einfache Streifenpolizistin. Die Tatwaffe eine andere als bei den Migrantenmorden. Und noch immer ist vollkommen unklar, warum die NSU-Terroristen, bei denen schließlich die entwendeten Dienstwaffen der Heilbronner Polizisten gefunden wurden, von ihrem Versteck in Zwickau bis nach Baden-Württemberg gefahren sein sollen, um eine 22jährige Beamtin zu erschießen.

Offene Fragen

Der »Nationalsozialistische Untergrund« hat nach zehn Morden, etlichen Bankrauben und mehreren Anschlägen seine Existenz freiwillig beendet. Eine Bilanz zu ziehen, den »NSU-Komplex« in die bundesdeutsche Geschichte einzuordnen, dickleibige Bücher über seine Taten und seine Täter zu verfassen, steht noch aus: Zu viel ist nach wie vor unbekannt, zu viele Fragen können derzeit nicht beantwortet werden. Warum endete die Migrantenmordserie im Jahr 2006? Wieso töteten die Terroristen ein Jahr später eine Polizistin, fernab von ihrem Versteck? Weshalb rührte sich die Terrorzelle dann erneut vier Jahre lang nicht? Und warum begingen die beiden männlichen NSU-Mitglieder schließlich Selbstmord? Und von wem haben sie während der Jahre im Untergrund Unterstützung erhalten? Tatsächlich ist kaum absehbar, welche dieser Fragen überhaupt noch beantwortet werden können – diejenigen, die möglicherweise Erklärungen über die 13 Jahre währende, ungestörte Untergrundtätigkeit der Gruppe liefern könnten, taten sich bislang eher durch konzertierte Spurenvernichtung hervor.

Die Terroristen, die die Gesellschaft spalten, Migranten isolieren und in Angst und Schrecken versetzen wollten, haben ihr Ziel erreicht, nicht zuletzt dank der Schützenhilfe der deutschen Behörden, die erwartungsgemäß reagierten und den Druck auf die Opfer noch erhöhten. Die Familien der Ermordeten, die Kleingewerbetreibenden, die fürchten mußten, als nächstes zum Opfer zu werden – und sie ahnten ja, daß es Neonazis sind, die dort auf Menschenjagd gingen –, sie wurden alleingelassen, bedrängt und beleidigt. Die »Vision« eines »ausländerfreien Deutschland«, die die alten und neuen Nazis dieses Landes eint, ist tatsächlich mit jedem Anschlag, mit jedem von Neofaschisten begangenen Mord nähergerückt. Die Attentate auf Asylbewerberheime in den neunziger Jahren haben ein beinahe »migrantenfreies« Ostdeutschland hinterlassen. Einer am Freitag vorgestellten repräsentativen Umfrage des Instituts Info GmbH zufolge tragen sich mittlerweile 45 Prozent der Türken in Deutschland mit dem Gedanken, das Land zu verlassen. Deutlich mehr Befragte als in den vergangenen Jahren haben rassistisch motivierte körperliche Angriffe erleben müssen – 16 Prozent der 1011 interviewten Menschen machten solche Erfahrungen. Die düstere Einschätzung des BKA zur Sicherheitslage in Deutschland schließt nicht aus, daß weitere Terrorzellen im Bundesgebiet losschlagen könnten. Drei Neonazis töteten in rund dreizehn Jahren zehn Menschen – und haben die Gesellschaft der BRD damit nachhaltig verändert. Niemand wird sich vorstellen wollen, was fünf oder zehn solcher Zellen anzurichten in der Lage wären.

* Aus: junge Welt, Samstag, 18. August 2012


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