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Zufall als Ermittlungsgrundsatz

Der NSU-Prozess hat den »Mordfall Kiesewetter« aufgerufen, bei dem so vieles ungeklärt ist

Von René Heilig, München *

Grün-Rot in Stuttgart blockiert die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum NSU-Attentat 2007 in Heilbronn? Auch der vom Innenminister angekündigte Abschlussbericht bleibt aus. Zufall?

25. April 2007, 14.12 Uhr, Heilbronn, Theresienwiese. Der Überfall auf die Polizeimeisterin Michele Kiesewetter und ihren Kollegen Martin Arnold von der Bereitschaftspolizei in Böblingen geschah für die beiden völlig überraschend. Sie machten Pause, saßen im Streifenwagen am Neckar im Schatten eines Trafohäuschens. Auf dem großen Areal davor wurde gerade ein Volksfest vorbereitet. Sie hatten die Türen offen, als von hinten zwei Männer herantraten.

»Die zehn Minuten waren schwarz, die kamen nicht mehr wieder«, sagte der überlebende Arnold am Donnerstag. Er war Zeuge im Münchner NSU-Prozess. Zu dem Routineeinsatz in Heilbronn hatte sich der junge Beamte gemeldet, »weil ich noch keinen Einsatz hatte«. Die Attentäter schossen ihm in den Kopf. So wie seiner Kollegin. Michele Kiesewetter starb am Tatort. Arnold erwachte erst einige Wochen später aus dem Koma. Bis heute hört er auf dem rechten Ohr schlecht, hat Gleichgewichtsprobleme, kann nur Innendienst machen.

Die Anklage sagt, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die beiden Killer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), hätten geschossen. Möglich. Im Wohnmobil, in dem die beiden sich im November 2011 nach einem verpatzten Banküberfall in Eisenach gerichtet haben sollen, fanden sich Kieswetters Handfessel und eine Jogginghose von Mundlos mit einer Blutspur. Blut von Kiesewetter.

Die NSU-Mörder wollten den Staat treffen, die verhasste Polizei. Sie hätten es auf die Pistolen der Beamten abgesehen gehabt, sind die Ankläger überzeugt. Aber warum ließen die Täter die im Streifenwagen befindliche Maschinenpistole zurück? Benutzt wurden die Waffen nie. Eine ist auf der widerlichen Paulchen-Panther-DVD zu sehen, in der die NSU-Taten zynisch verherrlicht werden. Gemordet haben die Täter in Heilbronn auch nicht mit den Waffen, die der NSU zuvor bei den Hinrichtungen von acht türkischen und einem griechischen Gewerbetreibenden benutzte. Diesmal setzten sie eine Tokarew- und eine Radom-Pistole ein. Es stimmt, solche alten Armeewaffen fanden sich im Brandschutt der Zwickauer Trio-Wohnung, die von der in München angeklagten Beate Zschäpe angezündet worden war.

Zweifelsohne, das sind schwerwiegende Indizien. So wie die Anwesenheit eines Wohnmobils in Heilbronn, das von einem Holger Gerlach in Chemnitz gemietet worden war. Gerlach, ebenfalls in München angeklagt, hatte seine Papiere Uwe Böhnhardt überlassen. Den identifizierte Alexander H. vom Caravanverleih zweifelsfrei auf Fotos als Mieter des Fahrzeugs. Die restliche Vernehmung von H. war schlampig.

Warum überfielen die Nazi-Terroristen an diesem Tag an diesem Ort diese beiden Polizisten? Zufall! Sie wurden willkürlich ausgewählt wie alle Opfer, sagen die Leute von der Bundesanwaltschaft und sind sauer, dass es Leute gibt, die jenseits aller Verschwörungstheorie nach besseren Antworten suchen. Dabei helfen Zeugenaussagen. Da ist beispielsweise von jungen Männern in blutverschmierter Kleidung nahe dem Tatorte die Rede.

Die Herren der Anklage von der Bundesanwaltschaft halten das für irrelevant. Jeder habe einen anderen Typ beschrieben. So ist es in 90 von 100 Fällen, bei denen mehrere Zeugen einen Sachverhalt schildern. Die Zeit habe gar nicht gereicht, um sich am Neckar die Hände zu waschen, lautet ein Hilfsargument, denn nach der ausgelösten Ringfahndung hätten zwei Polizisten 15 Kilometer südlich vom Tatort in Oberstenfeld eine Kontrollstelle errichtet. Zwischen 14.30 Uhr und 14.38 Uhr notierten sie auch die Nummer eines weißen Wohnmobils: C-PW 87. Es ist das von »Gerlach« gemietete. Das eigentlich längst hätte wieder in Chemnitz sein sollen. Doch die Mieter hatten angerufen und eine Verlängerung des Vertrages erbeten.

Wofür nutzten Mundlos und Böhnhardt die Zeit? Haben sie auf Kiesewetter oder Arnold warten müssen? Deren Einsatzliste ist erst am 20. April bestätigt worden, Kiesewetter hatte sich »in den Dienst getauscht«. Es gibt noch mehr merkwürdige Zufällen in Sachen Wohnmobil. Nur Sekunden nachdem es die Kontrollstelle passierte, notierten die Polizisten ein Ludwigsburger Pkw-Kennzeichen, das zu diesem Zeitpunkt gar nicht vergeben war., fanden die »Stuttgarter Nachrichten« heraus.

Spekulationen möglich. Auch über einen Stuttgarter Verfassungsschützer, der in Gegend unterwegs war. Zufällig? Natürlich! Das Wohnmobil fuhr in südlicher Richtung, Chemnitz liegt nordwestlich. Zschäpe, die kein Wort sagt, ist mehrfach im nahen Ludwigsburg bei einer Freundin gewesen. Die Stadt liegt in südlicher Richtung. Zufall?

Völlig unklar ist, wer im Caravan war. Böhnhardt? Mundlos? Oder jemand, auf den das von Arnold beschriebene Phantombild passt? Lange hat der Polizist – auch unter Hypnose – Angaben gemacht, die auf mehrere Täter weisen. Inzwischen hat er sich den Zufällen der Bundesanwaltschaft gebeugt. Und was ist mit dem Caravanvermieter Alexander H.? Der war nachweislich am Mordtag im Raum Heilbronn. Von dem Polizeieinsatz in der Stadt will er nichts bemerkt haben. Bei seiner Vernehmung in München machte er keine gute Figur. Fragen zu seiner politischen Orientierung beantwortete er ausweichend.

Auch bei H. häufen sich Zufälle. 2006 war er in der Nähe eines NSU-Tatortes. Das Foto einer Radarfalle beweist, dass der Chemnitzer am 4. April 2006 nahe Dortmund war. 60 Kilometer entfernt wurde Mehmet Kubasik getötet. Ein anderes mal hielt sich H. – so die Handydaten nicht trügen – unweit von Kassel auf. 48 Stunden später, am 6. April 2006, wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé ermordet. Wie es der Zufall wollte, wurde auch die Endreinigung des Campers nach seiner Heimkehr aus Heilbronn so gründlich erledigt, dass man nicht einen Fingerabdruck und nicht eine DNA-Spur der Mieter im Fahrzeug fand.

Die Faktensammler des Münchner Oberlandesgerichts, die sich in der kommenden Woche weiter mit dem »Mordfall Kieswetter« befassen, stehen vor keiner leichten Aufgabe. Sie sollen Klarheit schaffen – also auch den Zufall bändigen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 18. Januar 2014


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