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Gefahrenzone rekonstruiert

NSU-Prozess: Tatort nach Kölner Bombenanschlag unvollständig vermessen: Gericht lässt Polizeiermittler nacharbeiten. Streit um Zulassung von Nebenklägern

Von Claudia Wangerin, München *

Während die Verteidiger der mutmaßlichen Neonaziterroristin Beate Zschäpe beantragen wollen, die Zulassung einzelner Nebenkläger zu widerrufen, versucht das Oberlandesgericht (OLG) in München im Prozess um den »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) gerade erst herauszufinden, bis zu welchen Wohnhäusern der Kölner Keupstraße die Gefahrenzone des Nagelbombenanschlags am 9. Juni 2004 gereicht hat. Dies ist kein unwesentlicher Punkt, weil davon abhängt, wie viele Personen damals potentielle Mordopfer waren. Die Polizei hätte das unmittelbar nach der Tat klären können – aber der Ermittler des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen, den das Gericht am Mittwoch als Zeugen geladen hatte, war offensichtlich schlecht vorbereitet. Mehrfach wurde seine Befragung unterbrochen, weil er anhand von Bildmaterial den Tatort vermessen und maßstabsgetreu die Entfernungen ausrechnen musste. Die Bundesanwaltschaft hatte dies beim Erstellen der Anklageschrift 2012 nicht so genau genommen – auch den Sprengversuch mit einem Nachbau der Bombe hatte erst 2013 der Vorsitzende Richter Manfred Götzl angeordnet, als der Prozess gegen Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer des NSU bereits lief.

Bei dem Anschlag auf die migrantisch geprägte Einkaufsmeile waren 22 Menschen zum Teil schwer verletzt worden. Andere leiden vor allem psychisch unter den Folgen. Im Fall der Nebenklägerin Sermin S., die am Tag des Anschlags hochschwanger mit einem Schock ins Krankenhaus kam, zieht Zschäpes Verteidigerteam aber genau das in Zweifel. Der Anwalt der Frau, Alexander Hoffmann, gilt im NSU-Prozess als sehr engagiert und hat sich mit intensiven Zeugenbefragungen bei der Verteidigung unbeliebt gemacht – im Gegensatz zu einem anderen Nebenklagevertreter, der im Umfeld der Keupstraße sehr aggressiv um Mandate geworben haben soll, im Prozess aber bisher weitgehend passiv blieb.

Zschäpe-Anwalt Wolfgang Heer hat für diese Prozesswoche einen Antrag gekündigt, der darauf zielt, unter anderem Sermin S. die Zulassung als Nebenklägerin zu entziehen. Ihr Therapeut war vergangene Woche als Zeuge vor dem Münchner Gericht vernommen worden. Zschäpes Verteidigerteam wollte von ihm laut Anwalt Hoffmann und Kollegen »hören, dass die Nebenklägerin keine psychischen Folgen des Bombenanschlags erlitten habe, sondern dass ihre eindeutig vorhandenen Panikattacken von Ereignissen aus ihrer Kindheit herrührten«. Der Therapeut habe dies aber nicht bestätigt, erklärten die Nebenklagevertreter in ihrem Blog nsu-nebenklage.de. Die Kindheitserlebnisse der Frau hätten zu einer Depression geführt, diese habe aber völlig andere Symptome bewirkt als die Panikattacken.

Sermin S. soll dem Therapeuten berichtet haben, dass diese Angstzustände in der Zeit nach dem Bombenanschlag aufgetreten seien und sich über einen langen Zeitraum verstärkt hätten. 2011 habe sie während eines Kinofilms, der eine Kriegsszene enthielt, eine so extreme Panikattacke erlitten, dass ein Notarzt gerufen werden musste.

Laut Hoffmann ist davon auszugehen, dass die Erinnerung an den Bombenanschlag der Auslöser war. Auch der Therapeut hatte vor Gericht erklärt, er überlege heute, seine Diagnose in »posttraumatisches Belastungssyndrom« zu ändern und dies in Zusammenhang mit dem Anschlag zu sehen.

Hoffmann und andere Nebenklagevertreter warnten außerdem davor, »Opfer eines versuchten Mordes jetzt gegen die ›echten‹ Opfer auszuspielen«, nur weil sie – anders, als die Mörder es geplant hätten – körperlich unverletzt geblieben seien. Nebenklageanwalt Eberhard Reinecke betonte am Mittwoch gegenüber junge Welt, es käme darauf an, von welcher Gefahrenzone die Täter ausgehen mussten und wer sich darin aufhielt.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Februar 2015


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