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Die Naziszene macht sich lustig

Ein Anwalt der Nebenklage über das, was im NSU-Prozess bislang nicht erreicht wurde *


Rechtsanwalt Yavuz Narin (37) aus München vertritt im Prozess um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) Angehörige des 2005 erschossenen Theodoros Boulgarides. Die Familie hatte ihn bereits ein halbes Jahr vor dem Auffliegen des NSU beauftragt. »Unsere Arbeitshypothese war, dass wir es mit einer terroristischen Neonazigruppierung zu tun haben ...« Mit Yavuz Narin sprach René Heilig.


Im kommenden Monat wird der Vorsitzende Richter Manfred Götzl den 100. Verhandlungstag im Münchner NSU-Prozess aufrufen. Das öffentliche Interesse schwindet. Es kommt ja doch nichts heraus, hört man oft. Ist das so?

Die Erwartungen an den Strafprozess waren in der Öffentlichkeit von Beginn an zu hoch gesteckt. Wir können aber nicht sagen, dass der Prozess nichts Neues hervorgebracht hätte. So konnte durch die Aussage des Angeklagten Carsten Schulze ein weiterer Bombenanschlag des NSU in Nürnberg aufgedeckt werden.

Das war diese Bombe in Form einer Taschenlampe?

Ja. Darüber hinaus verhalfen intensive Befragungen, insbesondere durch die Nebenklage, aber auch die fortgesetzten Recherchen einiger weniger Journalisten zu weiteren Ermittlungsansätzen. Wir beobachten allerdings, dass die Bundesanwaltschaft alles, was über die Anklageschrift hinausgeht, systematisch ausblendet.

Es stimmt, sagen die Ankläger, da gebe es noch viele Leerstellen, doch das Bundeskriminalamt ermittle angestrengt weiter. Wenn man das alles in den Prozess einführt, würde er ausufern. Ein richtiges Argument?

Ein Ausufern des Prozesses ist deshalb schon nicht zu befürchten, weil wir ohnehin mit einem uferlosen Komplex zu kämpfen haben. Jahrelang sind rassistische, rechtsextremistische Straftaten vertuscht und verharmlost worden. Die Bundesanwaltschaft und der Senat beklagen die hohe Anzahl der Nebenkläger. Doch wer ist daran schuld, dass es so viele Betroffene gibt? Die Verantwortung dafür liegt bei den Ermittlungsbehörden. Hätten die wirklich in alle Richtungen ermittelt, dann wären vermutlich viele Morde zu verhindern gewesen. Was man so hätte verhandeln müssen, wäre in einem gewöhnlichen Strafprozess zu bewältigen gewesen.

Wenn man sich die Naziszene anguckt, so scheint die nicht unter einem erhöhten Verfolgungsdruck zu leiden. Jüngst erst saß eine ganze Delegation auf dem Besucherrang, gratulierte auf diese Weise dem Angeklagten Wohlleben zum Geburtstag.

Die Naziszene durfte sich über viele Jahre aufgrund der Verharmlosung des Rechtsextremismus in Sicherheit fühlen. Im aktuellen Prozess erleben wir außerdem eine Nachsichtigkeit des Vorsitzenden Richters mit Zeugen aus diesem Bereich, die viele Verfahrensbeteiligte erstaunt. Richter Götzl war in der Vergangenheit dafür bekannt, dass er Zeugen auch bei geringeren Straftaten hart ran nahm. Wenn jemand die Aussage verweigerte oder versuchte, das Gericht zu täuschen, drohte er nicht nur mit Beuge- oder Untersuchungshaft. Wenn ein Zeuge nicht erscheint, dann wurde er zugeführt.

Götzl ist nicht mehr der alte? Nichts von alledem?

Das alles findet erstaunlicherweise überhaupt nicht statt und die Naziszene macht sich, wie man auch aus entsprechenden Internetforen entnehmen kann, über das Verfahren lustig. Zeugen, die systematisch die Aussage verweigert hatten, werden als Helden gefeiert. So, wie man sich in dem widerlichen »Paulchen Panther«-Bekennervideo über die Ermittlungsbehörden lustig gemacht hat, so macht man sich heute über den Vorsitzenden Götzl und über dieses Verfahren lustig. Die Neonazis haben aber auch die diversen Untersuchungsausschüsse der Parlamente intensiv studiert, haben beobachtet und gesehen, dass sich Vertreter von Sicherheitsbehörden, der Justiz, sogar Staatssekretäre dort ähnlich wie Leute aus der Organisierten Kriminalität verhalten haben. Sie logen, flüchteten sich in Erinnerungslücken, verweigerten die Aussagen. Und nun denkt man in der Naziszene, was diesen Herrschaften recht ist, das ist uns billig.

Und man darf wohl auch weiter mit Erinnerungslücken bei Behördenvertretern rechnen?

Genau so ist es. Wir haben als Nebenklage zudem bemerkt, dass bei intensiven Befragungen von Zeugen aus der Naziszene Bundesanwaltschaft und Zschäpe-Verteidigung bisweilen scheinbar eine Allianz gebildet haben. Manchmal werden Nachfragen der Nebenklage im selben Atemzug sowohl von der Bundesanwaltschaft als auch von der Verteidigung blockiert, so dass man erstaunt ist, ob die Anklagebehörde diese wesentlichen Belastungszeugen tatsächlich hören will oder ob sie einfach nur ihre äußerst lückenhafte und sich auf das Nötigste beschränkende Anklageschrift durchziehen möchte.

Immer wieder müssen Zeugen mehrfach kommen, doch man hat nicht den Eindruck, dass sie beim nächsten Termin aussagebereiter erscheinen. Teilen Sie diese Beobachtung?

Ja. Mehr noch. Die Bundesanwaltschaft und der Senat scheinen außerdem bei der Hinzuziehung von Aktenmaterial, wenn es um Neonazi-Zeugen oder den Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme geht, das Persönlichkeitsrecht dieser Personen über alles andere zu stellen. Das erstaunt umso mehr, als das Persönlichkeitsrecht der Opferangehörigen über Jahre mit Füßen getreten wurde und diese Menschen wider besseren Wissens diffamiert wurden.

Eine Frage noch zu den Nebenklägern: Als Beobachter wünschte man sich ein bisschen mehr Einigkeit und Kraft. Woran scheitert das?

Es ist nicht einfach für uns, es gibt über 40 Nebenkläger und natürlich sind deren Anwälte sehr verschieden, wenn sie die Interessen ihrer jeweiligen Mandanten zur Sprache bringen. Manche Nebenklage-Anwälte vertreten auch die Auffassung, man spiele der Verteidigung der angeklagten Neonazis in die Hände, wenn man im Sinne einer umfassenden Aufklärung auch die Beteiligung von V-Leuten thematisiert. Ich denke, ein nicht aufgeklärter Sachverhalt spielt erst recht der Verteidigung in die Hände. Und solche Sachen werden sich spätestens in einem Revisionsverfahren rächen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. März 2014


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