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Multikrimineller Sumpf

Neonazi, V-Mann – Sexualstraftäter? NSU-Zeuge Tino Brandt wegen Verdachts auf Kindesmißbrauch verhaftet. Ermittlungen auch wegen Zuhälterei

Von Claudia Wangerin *

Einer der wichtigsten Zeugen im Münchner Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) wird aus der Untersuchungshaft vorgeführt werden müssen: Tino Brandt wollte sich nie als Verräter fühlen, als er zugleich Anführer der Neonazikameradschaft »Thüringer Heimatschutz« und gut bezahlter V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz war – auch nach seiner Enttarnung im Jahr 2001 schlug sein Herz für die Szene, die gerne mal die »Todesstrafe für Kinderschänder« fordert. Zumindest in diesem Punkt dürfte Brandt jetzt entschieden für moderne Rechtsstaatlichkeit sein, denn seit Mittwoch sitzt der 39jährige selbst wegen des Verdachts auf sexuellen Mißbrauch von Minderjährigen in Untersuchungshaft. Der Verdacht habe sich nach Zeugenvernehmungen ergeben, so der Leitende Oberstaatsanwalt Thomas Villwock am Donnerstag in Gera. Nach Informationen der Thüringer Allgemeinen gibt es detaillierte Aussagen eines zur Tatzeit 15jährigen, den Brandt sexuell mißbraucht und anschließend an Freier vermittelt haben soll. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Brandt daher auch wegen des Verdachts der Zuhälterei. Laut Zeitungsbericht wurde seine Wohnung durchsucht, ebenso die Räume von mindestens fünf Männern und Jugendlichen, die sich in Brandts Auftrag prostituiert haben sollen. Mobiltelefone und Computer sollen noch nicht vollständig ausgewertet sein.

Es stellt sich die Frage, wer hier alles für wen erpreßbar war. In zweieinhalb Wochen, am 15. Juli, soll der Ex-V-Mann im NSU-Prozeß als Zeuge aussagen, da sich das mutmaßliche Kerntrio der Gruppe im »Thüringer Heimatschutz« radikalisiert hatte und Brandt selbst Ende der 1990er Jahre in die versuchte Beschaffung falscher Pässe für die Untergetauchten verwickelt war. Da Brandt bisher keine Mitwisserschaft über die geplanten Morde des NSU nachzuweisen ist, gelten seine Unterstützungshandlungen als verjährt. Der sechste Strafsenat des Oberlandesgerichts München wollte sich am Donnerstag dafür einsetzen, daß Brandts dreitägige Vernehmung wie geplant stattfinden kann. Bereits im Februar war er als Zeuge geladen – in seinem Umfeld soll dann aber eine Krankheit aufgetreten sein, »die vom Gesundheitsamt überwacht wird«, so damals die Pressestelle des Oberlandesgerichts München.

In einer Vernehmung durch Ermittler nach der Aufdeckung des NSU hatte Brandt seine Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz als »Win-win-Situation« beschrieben. Er habe die V-Mann-Führer nie belogen.

Gerüchte über ein bedenkliches Interesse des Neonazis an minderjährigen Jungen gibt es in gut informierten Kreisen schon länger. Szeneangehörige rümpften bereits im vergangenen Jahr auch Dritten gegenüber die Nase. Eine entsprechende Anspielung gab es aber schon 1998 in einer »Geburtstagszeitung«, die enge Freunde damals für Brandts Kameraden André Kapke erstellt hatten. Sie ist heute Teil der Gerichtsakten und enthält eine krude Mischung aus Haßerfülltem über Juden, Migranten und Andersdenkende, aber auch augenzwinkernden Witzeleien über eigene Kader. »Pubertärer Quatsch«, so nannte die damalige Mitautorin Jana J. den gesamten Inhalt verschämt im Zeugenstand.

Inzwischen wird einer der mutmaßlichen NSU-Terroristen, die am 4. November 2011 in Eisenach tot aufgefunden wurden, sogar mit dem Mord an einem Neunjährigen im Jahr 1993 in Verbindung gebracht. Die Staatsanwaltschaft Gera bestätigte vergangene Woche entsprechende Ermittlungen. Der Hinweis stammt von Böhnhardts Exkumpan Enrico Theile, der damals selbst verdächtigt wurde, den Jungen Bernd Beckmann getötet zu haben.

* Aus: junge Welt, Freitag 27. Juni 2014


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