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Schlechter Stummfilm

NSU-Prozess: »Dafür braucht man kein Ermittler zu sein«: Verletzte aus der Kölner Keupstraße schildern Nagelbombenanschlag und die Folgen

Von Claudia Wangerin, München *

Direkt nach der Explosion hatte Sandro D. kein Schmerzempfinden. Er spürte weder die großflächige Wunde an seiner Schulter, noch die Verbrennungen am Arm oder den zwölf Zentimeter langen Zimmermannsnagel in seinem rechten Oberschenkelknochen. Vier von über 700 Nägeln aus der Bombe, die am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße explodiert war, mussten Sandro D. in einer Notoperation aus den Beinen entfernt werden. Neun hatten seinen Freund Melih K. getroffen. Er habe ihn nur »auf dem Boden liegen sehen, wusste nicht, ob der lebt oder tot ist«, sagte Sandro D. am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München. Als erste Verletzung habe er an sich selbst einen offenen Bruch am Daumen wahrgenommen – »weil ein Knochen rausgeguckt hat«. Gehört habe er nichts: »Wie so ein Stummfilm, ein schlechter Stummfilm.« Im Krankenwagen verlor er das Bewusstsein und wachte zwei Tage später auf der Intensivstation auf. Besonders belastet habe ihn die Ungewissheit, was mit seinem Freund passiert sei. Dann habe er erfahren, dass er mit Melih K. nicht kommunizieren dürfe, weil sie verdächtigt würden, das Fahrrad mit der Nagelbombe selbst vor dem Friseurgeschäft in der Keupstraße abgestellt zu haben. Sie sei vielleicht nur zu früh hochgegangen. Sinngemäß übermittelt hatten dies wohl Ärzte, als Sandro D. für fünf Minuten aufwachte. Er habe sich aber gedacht, das könne nur von der Polizei kommen, sagte der heute 34jährige. Die beiden jungen Männer sind zwei von 22 Verletzten des Anschlags auf die migrantisch geprägte Einkaufsmeile vom 9. Juni 2004. Vier von ihnen sagten am Dienstag in München aus.

Im November 2011 soll die Hauptangeklagte Beate Zschäpe den Videoclip mit der Comicfigur Paulchen Panther verschickt haben, in dem der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) den versuchten Mehrfachmord als »Bombenstimmung für die Keupstraße« feierte.

Dass die Täter Neonazis gewesen sein könnten, hatte Melih K. sofort ins Gespräch gebracht, als die Beamten ihn fragten, was er sich als Motiv vorstellen könne. Er war noch im Krankenhaus vernommen worden – so schwer an den Beinen verletzt, dass die ersten Verbandswechsel wegen vorhersehbarer Schmerzen nur unter Vollnarkose möglich waren. Mehrere Hauttransplantationen waren nötig. Etliche kleinere Splitter wurden aus seinem Gesicht entfernt. Diese Verletzungen seien aber sehr gut verheilt, sagte der heute 31jährige vor Gericht. Die Polizei hatte sich damals zum Beispiel für die »Beziehung« seines Freundes Sandro D. zur Keupstraße interessiert. Das ist heute den Akten zu entnehmen. Melih K. hatte dagegen erklärt: »Die einzige Möglichkeit, die ich mir denken kann, ist ein Ausländerhasser.« Vor Gericht befand er: »Dafür braucht man kein Ermittler sein«. Zuhörer applaudierten spontan.

Jahrelang war Melih K. nach dem Anschlag nicht berufstätig, nachdem er seine Ausbildung abbrechen musste. Schmerzen in Beinen und Rücken schränken ihn bis heute ein. Erst nach Bekanntwerden des NSU schloss der heute 31jährige eine Umschulung zum Bürokaufmann ab. Heute arbeitet er als Justizangestellter. Sandro D. ist arbeitsuchend. Zwei Finger hätte er beinahe verloren, den Beruf des Zerspanungsmechanikers musste er aufgeben. Auch psychisch wirkt das Attentat nach: »Man hat seelische Schmerzen, wenn man sieht, wie entstellt man auf einmal ist, wie kaputt der Körper ist, aber man muss halt lernen, damit umzugehen«, sagt Sandro D. Sowohl er als auch Melih K. sind in psychotherapeutischer Behandlung.

Am Nachmittag sagten noch zwei weitere Verletzte aus: Der heute 59jährige Sükrü A., der damals in dem Friseurladen saß, weil er sich für die Hochzeit seiner Tochter die Haare schneiden lassen wollte, ist seit seiner Schädelverletzung erwerbsunfähig, leidet unter Schlafstörungen und Panikattacken. Kemal G., ein weiteres Opfer des Keupstraßenanschlags, war als politischer Flüchtling aus der Türkei gekommen. Er habe Deutschland als demokratisches Land gesehen, sagte der heute 35jährige. Der Anschlag sei ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 21. Januar 2015


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