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NSU-Verfahren – alles zu spät?

Wenige Erkenntnisse beim Münchner Prozess, neue Ermittlungsergebnisse im Nazi-Umfeld

Von René Heilig *

Im Münchner NSU-Prozess kam es gestern zu Verzögerungen. Die Technik verweigerte ihr Mittun und der einzige Zeuge seine zweckdienliche Mitarbeit.

Pünktlich beginnen die Verhandlungen im NSU-Verfahren vor dem Münchner Landgericht nie. Auch am Montag schlug der Versuch, den 108. Verhandlungstag zur vorgesehenen Zeit zu beginnen, fehl. Erst versagten die Mikrofone auf der Richterbank. Als die wieder funktionierten, fiel das Mikro am Zeugentisch aus. Es muss wohl geahnt haben, dass der Zeuge nicht viel zu den – wie er sagte – »Dönermorden« kund tun wollte. Später bedurfte es keiner technischen Verstärkung der Stimme mehr, denn Enrico T. wurde nach Augenzeugenberichten so laut, dass Richter Manfred Götzl die Befragung unterbrach.

Es ging um die Ceska-Mordwaffe. Die wurde in Tschechien produziert und gelangte via Schweiz nach Deutschland. Dank Enrico T.? Die Ermittler sagen, dass der mit einem Schweizer befreundet war, der die Pistole 1996 in seinem Heimatland gekauft haben soll. T. stellte angeblich den Kontakt zu dem Thüringer Jürgen L. her, der sie nach Jena geschmuggelt haben soll.

Der gestrige Zeuge ist dem Gericht bereits leidig bekannt. Im Februar erschien er nicht zum Vernehmungstermin. Angeblich war er im Ausland gewesen und hatte die Ladung nicht gelesen. Zum Folgetermin im März erschien er zwar, doch nach einem heftigen Streit zwischen dem Vorsitzenden Richter und der Verteidigung eines Angeklagten lehnte er es ab, ohne anwaltlichen Beistand Fragen zu beantworten. Gestern kam er mit einem Rechtsanwalt. Gebracht hat das wenig, denn von der Ceska-Lieferung wisse er nichts. Sagte er.

Den Darstellungen mehr oder weniger interessiert folgte André E., der als Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrundes angeklagt ist. André E. ist Mitbegründer der »Weißen Bruderschaft Erzgebirge« und verfügt über beste Kontakte zum Blood&Honour-Netzwerk in Chemnitz. Es heißt, er habe 1998 den untergetauchten späteren NSU-Mitgliedern Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und der nun Hauptangeklagten Beate Zschäpe ein illegales Quartier in Chemnitz verschafft. Am 4. November 2011, dem Todestag von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, war E. der erste, den Zschäpe kontaktierte.

Dem 1979 in Erlabrunn geborenen und in Zwickau wohnenden Neonazi wird unter anderem die Beihilfe an einem Sprengstoffverbrechen vorgeworfen. Es geht dabei um den Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004. Ein Buchungsvorgang bei der Erzgebirgssparkasse könnte den Angeklagten jetzt stärker belasten. Man weiß, dass sich die beiden mutmaßlichen Attentäter Mundlos und Böhnhardt drei Tage zuvor mit einem in Zwickau gemieteten VW Touran auf den Weg nach Nordrhein-Westfalen gemacht hatten. Offenbar fuhr auch E. im Auftrag seiner Spedition in diese Richtung. Und er war am Tag des Verbrechens in der Nähe: Am 8. Juni um 17.35 Uhr jedenfalls wurde die Geldkarte von André E. in einem nur rund 50 Kilometer von Köln entfernten Einkaufszentrum in Euskirchen eingesetzt. Über derartige Rechercheergebnisse der Ermittler berichteten jüngst die Rechtsextremismusexperten Maik Baumgärtner und Andrea Röpke.

Da Fahrtenschreiber, Lieferscheine oder Übernachtungsquittungen aus jenen Tagen nicht mehr existieren und der Angeklagte die Aussage verweigert, war es bislang relativ einfach, alle Beschuldigungen in Zweifel zu ziehen. Das könnte sich nun durch die akribische Buchführung der Sparkasse ändern.

In den vergangenen Tagen hatten auch andere Nachrichten aus dem Neonazi-Bereich für Fahnderinteresse gesorgt. So hat die Familie des langjährigen Verfassungsschutz-V-Manns Thomas R. alias »Corelli« dessen Tod bestätigt. R., der sich zuletzt in einem Zeugenschutzprogramm des Bundes befand, war Anfang April tot in einer Wohnung im Paderborner Stadtteil Schloß Neuhaus aufgefunden worden. Dort lebte er nach seiner Enttarnung als V-Mann unter neuer Identität – als »Thomas D.« Laut Staatsanwaltschaft Paderborn steht nach der Obduktion die Todesursache fest. R. starb an den Folgen eines überhöhten Blutzuckerspiegels.

In Nepzin (Ostvorpommern) fand dieser Tage ein ehemaliger NPD-Kreistagskandidat eine verweste Leiche in seinem Brunnen. Es handelt sich, so fand das Bundeskriminalamt heraus, um den Erfurter Rechtsextremisten Brian Roger K. Der war 2005 wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz, 2007 wegen Drogendelikten, Einbruch und Körperverletzung aufgefallen und 2013 aus einer Entziehungseinrichtung in Sachsen-Anhalt entwichen. Bereits im November 2013 hatte man in Züssow unweit von Nepzin ein herrenloses Fahrrad mit einer Tasche und Ausweispapieren des Flüchtigen gefunden. Lapidar heißt es: Die Ermittlungen dauern an.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. April 2014 (Kommentar)


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