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Sorglos in Pension

NSU-Prozess: Ehemaliger V-Mann-Führer berichtet seelenruhig, wie leicht es gewesen wäre, die späteren Neonaziterroristen zu fassen

Von Claudia Wangerin *

Die »Quellen« sollten nicht nachfragen, was gemeint war, wenn sie etwa zu hören bekamen, drei untergetauchte Neonazis würden jetzt »jobben« und seien somit nicht mehr auf Geldzuwendungen aus der Kameradschaftsszene angewiesen. Dadurch hätten sich V-Leute nur verdächtig gemacht und wären »ausgeschlossen worden aus weiteren Informationskreisen«, sagte der pensionierte Verfassungsschützer Norbert Wießner am Dienstag im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München.

Wießner hatte allerdings nicht irgendeine Quelle betreut, sondern den Führungskader des »Thüringer Heimatschutzes«, Tino Brandt. Von dessen Geldbeutel hing maßgeblich die Handlungsfähigkeit dieser Gruppe ab. Zu ihr gehörte das mutmaßliche Kerntrio des »Nationalsozialistischen Untergrunds«, das 1998 in Jena untergetaucht war.

Nach seiner Enttarnung rechtfertigte der überzeugte Neonazi Brandt seine V-Mann-Tätigkeit unter anderem damit, dass er einen Großteil der Honorare in die politische Arbeit gesteckt habe. Ob so einer wirklich nicht hätte nachfragen können – und ob er es nicht sogar tat, ohne dass es aktenkundig geworden wäre – wissen nur die damals Beteiligten. Wießner jedenfalls erklärte am Dienstag seelenruhig, das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz habe zu dem Zeitpunkt, als das Wort »jobben« fiel, keine Kenntnis von »Fremdpapieren« gehabt, mit denen die Untergetauchten eine legale Erwerbsarbeit hätten aufnehmen können.

Bekannt waren Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe damals als »Bombenbastler aus Jena«, die seit Jahren zum harten Kern der Thüringer Neonaziszene gehört hatten. Über ihre Gewaltbereitschaft dürfte in Wießners Behörde kein Zweifel bestanden haben. An ihrer Ergreifung war der Thüringer Verfassungsschutz dennoch nicht interessiert.

Seine Spitzenquelle Brandt führte am 8. März 1999 – mehr als ein Jahr nach der Flucht des Trios aus Jena – ein Telefonat mit Böhnhardt. Die anrufbare Telefonzelle konnte der V-Mann selbst aussuchen. Er informierte sogar den Verfassungsschutz über den Standort. Für eine Fangschaltung wäre genug Zeit gewesen, denn erst nach mehrmaliger Ankündigung kam das Gespräch zustande. Wießner sagte dazu im Zeugenstand, er sei nur für die Erkenntnisgewinnung zuständig gewesen, nicht dafür, was daraus gemacht wurde.

Auch über falsche Papiere war die Behörde zumindest zeitweise gut informiert, denn im Jahr 2000 kümmerte sich Brandt alias V-Mann »Otto« in ihrem Auftrag persönlich um die Beschaffung – angeblich sollte so nur der Aufenthaltsort des Trios ermittelt werden. Soweit bekannt aber ohne Erfolg, denn Brandt beauftragte wiederum den Neonazi André Kapke, der mittlerweile für finanzielle Unregelmäßigkeiten berüchtigt ist. Dieser hatte jedoch im Februar als Zeuge in München ausgesagt, ein von Brandt empfohlener »Typ« habe ihm damals nur »leere« Pässe übergeben, für die er 1.000 oder 1.500 D-Mark gezahlt habe, bevor die Dokumente angeblich aus seinem Auto gestohlen wurden. An die Details wollte sich Kapke nicht mehr erinnern.

Brandt selbst sitzt momentan wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch von minderjährigen Jungen in Untersuchungshaft. Seine Zeugenvernehmung im Prozess um zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und mehrere Raubüberfälle, die seit 2011 dem NSU zugeordnet werden, ist noch nicht abgeschlossen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. November 2014


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