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"Das Motiv fehlt"

NSU-Prozeß. Verletzter Polizist kann sich den Heilbronner Mordanschlag nicht so einfach erklären wie die Ankläger der Staatsanwaltschaft

Von Claudia Wangerin *

Im Münchner Prozeß um die Neonaziterrorgruppe NSU hat am Mittwoch erstmals ein Geschädigter ausgesagt, der einen Mordanschlag des »Nationalsozialistischen Untergrunds« überlebte. Bei dem Attentat auf zwei Polizeibeamte am 25. April 2007 in Heilbronn starb Martin A.s Kollegin Michèle Kiesewetter. Er selbst lag mehrere Wochen im Koma. Auf beide waren Kopfschüsse abgegeben worden, als sie im Streifenwagen auf der Heilbronner Theresienwiese eine Pause einlegten.

Die Täter näherten sich dem Streifenwagen wahrscheinlich von hinten und schossen den Beamten jeweils von schräg hinten in den Kopf. Für die 22jährige kam jede Hilfe zu spät. Dem heute 31jährigen Martin A. wurden in einer Notoperation Geschoßteile aus dem Kopf entfernt, zurück blieben ein Hörschaden, Gleichgewichtstörungen auf der rechten Seite, eine erhöhte Epilepsiegefahr sowie Traumata, die bis heute therapiert werden. Außerdem habe er »Narben ohne Ende, mein Kopf sieht aus wie eine Landkarte«, sagte Martin A. vor dem Oberlandesgericht München. Die letzten zehn Minuten vor dem Anschlag und das Geschehen selbst fehlen in seiner Erinnerung. Seine Kollegen hätten alles versucht, um etwas aus ihm herauszuholen, erklärte er zu einer Vernehmung unter Hypnose im Jahr 2008. Da sei aber nichts gewesen. Nach seiner Entlassung aus der Rehaklinik mußte Martin A. aufgrund seiner Behinderung in den Innendienst wechseln, später studierte er auf der Polizeihochschule.

Mit den Ermittlungsergebnissen zu dem Anschlag sei er »unzufrieden bis heute«, erklärte er auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl. »Das Motiv fehlt«, betonte er. »Ich weiß nicht, was Sache ist.« Anders als der Geschädigte meint die Bundesanwaltschaft die Gründe für den Mordanschlag genau zu kennen: Michèle Kiesewetter und Martin A. seien Zufallsopfer; das Motiv schlicht allgemeiner Haß auf den Staat und seine Repräsentanten. Der Nebenklageanwalt des verletzten Polizisten, Walter Martinek, will diesbezüglich nicht im Namen seines Mandanten sprechen, erklärte aber am Donnerstag gegenüber junge Welt, er selbst habe »Restzweifel« am Erklärungsansatz der Ankläger.

Wie die mutmaßlichen Täter des Mordanschlags stammte das Opfer Michèle Kiesewetter aus Thüringen. Die Dienstwaffe der Polizistin wurde später in dem Campingwagen gefunden, den die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos bei ihrem letzten Banküberfall am 4. November 2011 in Eisenach nutzten – und in dem die beiden Männer am selben Tag Selbstmord begangen haben sollen. Warum sie ausgerechnet die geraubte Polizeipistole mit zu dem Überfall nahmen und damit eine wesentlich längere Haftstrafe riskierten, falls sie lebend gefaßt worden wären, ist nur eines von vielen Rätseln rund um die bundesweite NSU-Mordserie. Denn Mundlos und Böhnhardt, die mit der heutigen Hauptangeklagten Beate Zschäpe die Terrorgruppe gegründet haben sollen, verfügten über mehrere Kurz- und Langwaffen. Neun Männer mit Migrationshintergrund waren bereits mit einer Ceska-Pistole ermordet worden – bei Michèle Kiesewetter und Martin A. wurden andere Waffen verwendet, demnach sollte keine Verbindung zwischen den Verbrechen hergestellt werden.

Die junge Polizistin war nach Aktenlage 2006 und 2007 bei Aufmärschen rechter Gruppen in mehreren Städten im Einsatz, etwa in Stuttgart, Ulm, Göppingen und Pforzheim. Zwei Kollegen ihrer Kollegen in Baden-Württemberg waren Mitglieder des rassistischen Ku-Klux-Klan.

Als am Donnerstag vormittag Polizeibeamte aus Heilbronn und Böblingen zu dem Mordfall vernommen wurden, wollten sowohl Rechtsanwalt Martinek als auch die Nebenklagevertreterin der Mutter von Michèle Kiesewetter genau wissen, wie lange vor dem Einsatz feststand, daß die junge Beamtin diese Schicht übernehmen würde. Obwohl sie nur für einen anderen Kollegen eingesprungen war, muß sie nach Aussage eines zuständigen Beamten spätestens am 20. April – also fünf Tage vor dem Mord – auf der Liste gestanden haben; da sei der Einsatz gebucht gewesen. Gemeldet habe sie sich aber schon am 19. April.

Nach Aussage ihres verletzten Kollegen Martin A. hing in der Dienststelle eine Liste an der Pinnwand, wo sich jeder eintragen konnte.

* Aus: junge welt, Freitag, 17. Januar 2014


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