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"Piatos" Enthüllung

NSU-Prozess: Stand Zeuge Szczepanski bei Mordversuch schon im V-Mann-Sold? Verteidigung beantragt Ende der U-Haft von Wohlleben

Von Claudia Wangerin, München *

Carsten Szczepanski alias »Piato« steht die Befragung durch die Nebenklage im Münchner Prozess um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) noch bevor. Seine Zeugenvernehmung wurde am Mittwoch nachmittag unterbrochen - im Raum steht der Verdacht, dass der heute 44jährige bereits V-Mann einer Sicherheitsbehörde war, als er 1992 versucht hatte, einen Menschen zu töten. Mit einer Gruppe von Neonazis hatte er damals am Scharmützelsee den nigerianischen Asylbewerber Steve E. verprügelt und verletzt ins Wasser geworfen, nachdem es nicht gelungen war, ihn anzuzünden.

Nun will Szczepanski aber schon im Vorjahr aus der rechten Szene »ausgestiegen« sein, indem er sich dem Verfassungsschutz andiente: Vor dem Oberlandesgericht München datierte er am Mittwoch auf Nachfragen des Vorsitzenden Richters und der Verteidigung des Mitangeklagten Ralf Wohlleben den Beginn seiner Zusammenarbeit mit dem Inlandsgeheimdienst auf 1991 zurück. Während einer Untersuchungshaft in Königs-Wusterhausen habe er aus Reue an den Verfassungsschutz geschrieben. Szczepanski blieb bei der Jahreszahl - er legte sich auf 1991 fest, als ihm Rechtsanwältin Nicole Schneiders vorhielt, die Untersuchungshaft sei nach Aktenlage 1994 gewesen. Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer wendete ein, es müsse nicht derselbe Gefängnisaufenthalt gemeint sein. An viele Details will sich Szczepanski aber nicht erinnern.

Bekannt war bisher, dass er 1994 in der U-Haft wegen des Mordversuchs an Steve E. an Brandenburgs Landesamt für Verfassungsschutz geschrieben hatte und bald nach seiner Verurteilung 1995 als Freigänger seiner V-Mann-Tätigkeit nachgehen konnte. Unklar ist, ob er vor 1994 im Sold eines anderen Landesamtes oder des Bundesamtes für Verfassungsschutz stand.

Als Motiv für den angeblichen »Ausstieg« 1991 nannte er die Erkenntnis in der Zelle, dass er beinahe für den Tod eines Menschen mitverantwortlich gewesen wäre. Steve E. kann das zu diesem Zeitpunkt nicht gewesen sein. Gegen den umtriebigen Szczepanski war allerdings schon vorher wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt worden. Anfang 1992 hatte die Polizei in seiner Wohnung Materialien zum Bombenbau gefunden. Nach jW-Recherchen lieferte er daraufhin im Zuge intensiver Vernehmungen dem Bundeskriminalamt mehrere Namen von »Kameraden« und versprach, weiter zu kooperieren (siehe jW vom 23. Januar 2013). Im NSU-Prozess gilt Szczepanski als wichtiger Zeuge, da er dem Verfassungsschutz 1998 Hinweise auf Waffenbeschaffungs- und Ausreisepläne der drei untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe geliefert haben soll.

Laut Anklageschrift ist Zschäpe das einzige überlebende NSU-Mitglied. Den vier Mitangeklagten wird kein gemeinsamer Tatentschluss unterstellt. Die Verteidigung von Ralf Wohlleben könnte daher mit ihrem Antrag auf Entlassung ihres Mandanten aus der inzwischen dreijährigen U-Haft Erfolg haben: Rechtsanwalt Olaf Klemke sagte am Mittwoch, die bisherige Beweisaufnahme habe den Verdacht auf Beihilfe zum Mord nicht erhärtet.

Nach gängiger Rechtsprechung zählt ohne gemeinsamen Tatentschluss nicht, wovon Wohlleben bei der Beschaffung einer Waffe mit Schalldämpfer für untergetauchte Neonazis ausgehen musste, sondern ob es tatsächlich die Ceska 83 war, mit der sie später neun Männer türkischer, kurdischer und griechischer Herkunft erschossen. Der Mitangeklagte Carsten S. hat gestanden, im Auftrag von Wohlleben eine Pistole mit Schalldämpfer an Mundlos und Böhnhardt übergeben zu haben. Rechtsanwalt Klemke betonte am Mittwoch, dass S. die Ceska mehr als zehn Jahre später nicht mit Sicherheit identifiziert habe: Die Ermittler hätten ihm nur zwei weitere Waffen mit Schalldämpfer zur Auswahl vorgelegt, von denen er eine wegen der erheblich abweichenden Größe und eine wegen prägnanter Schlittenkanten ausgeschlossen habe.

* Aus: junge Welt, Freitag, 5. Dezember 2014


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