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Blutige Handschrift

9. Juni 2004, Terror in Köln: Von Anfang an deuteten Hinweise auf ein Netzwerk hinter dem Bombenanschlag auf die Keupstraße. Im NSU-Prozeß kamen weitere hinzu

Von Claudia Wangerin *

Der Anschlag am 9. Juni 2004 trug die Handschrift von »Combat 18«, dem bewaffneten Arm des Neonazinetzwerks »Blood & Honour«: Der Tatort war eine Einkaufsstraße, die oft und gern »Klein Istanbul« genannt wurde, die Bombe war mit mehreren hundert zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln gefüllt – offensichtlich darauf ausgelegt, möglichst viele Menschen zu verletzen oder zu töten. Nur durch Zufall starb bei der Explosion vor dem Friseursalon in der Keupstraße niemand. 22 Menschen wurden verletzt, manche von ihnen lebensgefährlich. Mehrere Ladenlokale wurden zerstört; und die Angst saß auch den Unverletzten noch lange in den Knochen.

Ein Bekennerschreiben gab es zu dem Anschlag nicht. Das brauchte es auch nicht: Nach den Worten von Rechtsanwalt Alexander Hoffmann war der Anschlag selbst »ein eindeutiges Bekenntnis zum rassistisch motivierten Massenmord, zum Krieg gegen Migranten«. So drückte es der Nebenklagevertreter zu Beginn der Hauptverhandlung aus – fast neun Jahre waren seither vergangen, die rechte Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) hatte sich erst Ende 2011 in einem zynischen Videoclip mit der Comicfigur Paulchen Panther zu dem Attentat, einem weiteren Mordversuch aus dem Jahr 2001 und neun vollendeten Morden bis 2006 bekannt.

Am Tag nach dem Anschlag in der Keupstraße hatte der damalige Bundes­innenminister Otto Schily (SPD) ein neonazistisches Motiv ausgeschlossen. Nach Aufdeckung des NSU betonte Schily, er habe damals nur die vorläufige Bewertung der Sicherheitsbehörden wiedergegeben. Damit, so Nebenklageanwalt Stephan Kuhn, seien aber dahingehende Ermittlungen von Anfang an blockiert worden. »Nach dem Auffliegen des NSU war es schlicht zu spät, seinerzeitige Versäumnisse nachzuholen«, sagt Kuhn im Gespräch mit junge Welt.

Dabei hatte es erst drei Jahre zuvor einen ungeklärten Sprengstoffanschlag auf Menschen mit Migrationshintergrund in Köln gegeben, der inzwischen dem NSU zugeordnet werden konnte und der diese Woche vor dem Oberlandesgericht in München verhandelt wurde. Die damals 19jährige Tochter einer iranischen Familie, Mashia M., war am 19. Januar 2001 schwer verletzt worden. als sie eine Stollendose geöffnet und so eine Bombe mit Abreißzünder zur Explosion gebracht hatte. Die Beweisaufnahme zu diesem Anschlag hat erneut die Anklagethese erschüttert, der NSU habe nur aus drei Haupttätern und wenigen Unterstützern bestanden – denn die Beschreibung des Mannes, der die Bombe in einem Geschenkkorb im Ladenlokal der Familie zurückgelassen hatte, paßt nicht zu den beiden männlichen Hauptverdächtigen, die an anderen NSU-Tatorten gesehen wurden.

Der Anschlag, bei dem Mashia M. schwere Gesichtsverletzungen erlitt, gilt als erster der Terrorgruppe in Köln. Womöglich war es aber nicht ihr erster in Nordrhein-Westfalen. Bereits am 27. Juli 2000 war im selben Bundesland ein bis heute ungeklärter Sprengstoffanschlag verübt worden: Eine mit TNT gefüllte Rohrbombe explodierte kurz nach 15 Uhr am Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn und verletzte zehn Menschen aus einer Gruppe jüdischer Migranten, die dort regelmäßig um diese Zeit unterwegs waren, da sie in der Nähe einen Sprachkurs besuchten. Eine Frau aus der Gruppe verlor infolge der Explosion ihr ungeborenes Kind. »Sowohl Opferauswahl als auch Tatmittel ähneln den Taten des NSU«, sagt Rechtsanwalt Kuhn.

Knapp vier Jahre später in der Keup­straße hatten sich die geschockten Bewohner ihren Teil gedacht, als die Polizei die Täter in ihrer Gegend suchte – dabei hätte hier fast jeder damit rechnen müssen, eigene Familienmitglieder oder Freunde zu treffen.

Daß es zunächst kein Bekennerschreiben gab, entsprach ebenfalls den Anleitungen von »Combat 18« – die Zahl steht für die Initialen von Adolf Hitler in der Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet. Die Rezepte des »Blood & Honour«-Netzwerks aus Großbritannien waren den deutschen Sicherheitsbehörden eigentlich bekannt – nicht ohne Grund hatte das Bundesinnenministerium im Jahr 2000 die deutsche Sektion des europaweiten Netzwerks verboten.

Hinzu kommt: Hätte das Bundeskriminalamt (BKA) seine Erkenntnisse über die Bombe in die Tatmittelmeldedatei eingegeben, hätte das Programm die Namen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ausgespuckt – darauf verwies später der CDU-Politiker Clemens Binninger, Obmann im 2012 eingerichteten NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestages. Auch im Fall eines Nagelbombenanschlags auf die Wehrmachtsausstellung 1999 in Saarbrücken sei dieser Typ Sprengstoff benutzt worden – und die Tatmittelmeldedatei habe die drei 1998 untergetauchten »Bombenbauer aus Jena« als mögliche Täter genannt, so Binninger.

Bei der Durchsuchung der Garage, die das mutmaßliche NSU-Kerntrio vor seinem Abtauchen genutzt hatte, war ein Exemplar der rechten Szene­zeitschrift Sonnenbanner gefunden worden, die von Michael See herausgegeben wurde. Darin befand sich auch ein Artikel mit der Überschrift »Strategien der Zukunft«, in dem eine netzwerkartige Organisationsform beschrieben wurde, die dem Zellensystem von »Combat 18« ähnelte. Aus drei bis zehn Personen sollte demnach eine Zelle bestehen. Der Herausgeber und mutmaßliche Autor mit dem Pseudonym »Karl Ketzer« war unter dem Decknamen »Tarif« als V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz geführt worden. Laut Spiegel-Veröffentlichung im Februar 2014 behauptet er heute, das Amt habe ihm nahegelegt, das Sonnenbanner zu Tarnungszwecken weiter herauszugeben, als er das Heft bereits habe einstellen wollen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 7. Juni 2014


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