Der Hessensumpf hat keine Ruhe
NSU-Prozess: Ex-V-Mann-Führer Temme muss noch einmal zum Kasseler Mord an Halit Yozgat aussagen. Das Gericht hat auch seine Ehefrau und mehrere Kollegen geladen
Von Claudia Wangerin *
Im Juni wird sich das Oberlandesgericht München erneut mit dem Kasseler Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 und der Rolle des damaligen Verfassungsschützers Andreas Temme beschäftigen, der zur Tatzeit am Tatort war. Das Gericht will den Beamten noch einmal in den Zeugenstand zitieren und außerdem vier seiner Kollegen aus dem hessischen Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) sowie Temmes Ehefrau vorladen. Dies geht aus einer Verfügung des Gerichts vom Donnerstag hervor, die junge Welt vorliegt.
Als Mörder von Halit Yozgat sieht die Bundesanwaltschaft die mittlerweile toten Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt an, die mit der heutigen Hauptangeklagten Beate Zschäpe den »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) gegründet und bundesweit zehn Menschen erschossen haben sollen – neun von ihnen mit derselben Ceska-83-Pistole, darunter Halit Yozgat.
Allerdings wurden in diesem Fall keine Personen in Tatortnähe gesehen, auf die die Beschreibung der »beiden Uwes« passt. Temme dagegen war zur Tatzeit an einem der Rechner des Internetcafés eingeloggt, in dem der junge Betreiber erschossen wurde. Ein Kunde will ihn dort mit einer Plastiktüte gesehen haben, die einen schweren Gegenstand enthalten haben soll.
Nachdem Temme sich selbst nicht als Zeuge meldete, galt er zunächst als Hauptverdächtiger. Die Polizei hörte daher Telefonate mit seinen Geheimdienstkollegen ab.
Das Verschweigen seiner Anwesenheit am Tatort erklärte er in mehreren Vernehmungen sowohl mit der Angst um seine junge Ehe, da er in dem Internetcafé sexuell motiviert gechattet hatte, als auch mit der Angst vor dienstlichen Folgen, weil es sich in der Nähe eines Beobachtungsobjekts befand. Außerdem will er weder gedämpfte Schussgeräusche bemerkt haben noch den Sterbenden hinter der Theke, als er das Ladenlokal verließ. Erst später sei ihm klargeworden, dass er zur Tatzeit dort war.
Als Temme am 9. Mai 2006 mit dem Geheimschutzbeauftragten seiner Behörde telefonierte, fiel dessen Satz: »Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, dann bitte nicht vorbeifahren.« Das wurde aber erst knapp neun Jahre später bekannt, nachdem Temme als Zeuge im NSU-Prozess schon vorläufig entlassen war. In der ursprünglichen Polizeiabschrift des abgehörten Telefonats kam das Zitat nicht vor. Die Nebenklagevertreter von Yozgats Eltern bezogen sich in einem Beweisantrag auf den Originalmitschnitt. Temme müsse schon vorher »konkretes Wissen hinsichtlich der Täter, des Tatorts, der Tatzeit und der Tatbegehung« gehabt haben, schlossen die Opferanwälte daraus.
Vor knapp zwei Wochen, am 11. Mai 2015, mussten sowohl Temme als auch der inzwischen pensionierte Geheimschutzbeauftrage Gerald-Hasso Hess im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zum NSU-Komplex aussagen. Hess behauptete dort nach Medienberichten, er habe mit diesem Satz nur das Gespräch ironisch einleiten wollen. Temme sah darin angeblich den Versuch, die Unterhaltung »aufzulockern«. Beobachter und Abgeordnete überzeugten diese Aussagen nicht. Zu diesem und anderen Telefonaten müssen die Beteiligten nun auch vor Gericht Rede und Antwort stehen. Ausdrücklich begrüßt wurde das am Donnerstag von dem hessischen Oppositionspolitiker Hermann Schaus (Die Linke): »Der Eindruck, den der ehemalige Geheimschutzbeauftragte des Landesamts für Verfassungsschutz, Gerald-Hasso Hess in der letzten Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses hinterlassen hat, war schlichtweg desaströs«, erklärte Schaus. Mit der Vorladung der hessischen Geheimdienstriege rücke aber »das Thema ›Behördenverstrickung‹ auch im NSU-Prozess in den Fokus«. Auch die von den Opferanwälten geforderte Zeugenladung des Hessischen Ministerpräsidenten und damaligen Innenministers Volker Bouffier (CDU) sei »nicht unwahrscheinlicher geworden«, da das Gericht sich die Möglichkeit offenhalte.
* Aus: junge Welt, Samstag, 23. Mai 2015
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