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"Kasseler Problematik"

NSU-Prozeß. Nebenkläger werfen früherem Verfassungsschützer Temme Falschaussagen vor. Die Ankläger verfügten schon lange über belastendes Abhörprotokoll

Von Claudia Wangerin, München *

Erneut war am Mittwoch im Münchner NSU-Prozeß der ehemals des Mordes beschuldigte Verfassungsschützer Andreas Temme als Zeuge geladen. Für seine Vernehmung zum Kasseler NSU-Mord an dem 21jährigen Halit Yozgat im April 2006 war ein ganzer Verhandlungstag vorgesehen, da Temme bisher nicht schlüssig erklären konnte, warum er im Internetcafé des Opfers nichts davon bemerkt haben will, daß der junge Besitzer nur wenige Meter von ihm entfernt erschossen worden war. Doch der Zeuge mußte am Mittwoch erst einmal warten. Die Nebenklagevertreter der Familie Yozgat beantragten, seine erneute Befragung zu verschieben und vorher Lutz Irrgang, den früheren Chef des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), und einen weiteren Mitarbeiter der Behörde als Zeugen zu hören. Anlaß war ein polizeiliches Abhörprotokoll aus Temmes Zeit als Beschuldigter, das die Anwälte in den bisher nicht beigezogenen Akten bei der Bundesanwaltschaft gefunden hatten.

Dem Wortlaut des Telefonats am 29. Mai 2006 hatten die Anwälte entnommen, daß Temme in einem Gespräch mit Behördenchef Irrgang mehr preisgegeben hatte als in polizeilichen Vernehmungen sowie in seinen Aussagen vor Gericht und in Untersuchungsausschüssen. Laut Abhörprotokoll hatte ein Kollege Temme darauf angesprochen, daß er im Gespräch mit Irrgang »nicht so restriktiv« gewesen sei als gegenüber den Mordermittlern. Der Kollege sagte Temme in diesem Zusammenhang laut Protokoll: »Es geht nicht um mich, es geht nicht um alle, es geht um die Kasseler Problematik.«

Von dem Dokument durfte Nebenklageanwalt Alexander Kienzle in den Räumen der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe keine Kopien anfertigen und mußte sich vor Gericht auf eigene Abschriften stützen. Mehrfach hatten Nebenklageanwälte die Umstände der Akteneinsicht kritisiert und die Hinzuziehung sämtlicher Akten zum »Komplex Temme« beantragt. Am Mittwoch wurde zumindest das besagte Abhörprotokoll beigezogen.

Als er nach mehreren Beratungspausen in den Zeugenstand trat, wollte sich Temme kaum an Einzelheiten seines Gesprächs mit Irrgang erinnern. Er habe ihm aber sicherlich gesagt, »daß ich nicht der Täter dieser Morde bin«. In der Befragung durch den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl gab sich Temme zerknirscht: »Mein Leben stand völlig auf dem Kopf, ich war Beschuldigter in einer unfaßbaren Mordserie.« Deshalb sei ihm vieles aus dieser Zeit »offensichtlich nicht mehr so gegenwärtig«. Laut wurde Temme später gegenüber Nebenklageanwalt Thomas Bliwier, dem er mitten in der Befragung Äußerungen vorwarf, »über die ich mich hätte ereifern können«. Der Anwalt wiederum warf Temme vor, dieser habe Vorgesetzte angelogen. Einem Vermerk zufolge habe er nämlich anfangs erklärt, er habe das Internetcafé nicht aufgesucht.

Bereits am Mittwoch morgen hatte Nebenklageanwalt Yavuz Narin die Frage aufgeworfen, ob Zeugen aus der Neonaziszene überhaupt ein Vorwurf daraus gemacht werden könne, wenn sie vor Gericht offensichtlich lügen, da auch »Vertreter der Sicherheitsbehörden, Staatsanwälte, Minister und Staatssekretäre zum Teil gelogen oder die Aussage verweigert« hätten, ohne dafür belangt zu werden. Narin vertritt im Prozeß die Witwe des Münchner NSU-Mordopfers Theodoros Boulgarides und hat das Aussageverhalten staatlicher Akteure in NSU-Untersuchungsausschüssen beobachtet. Es sei »nur konsequent«, daß auch NSU-Unterstützer »sich ermutigt fühlen, sich eben dieses Recht herauszunehmen – und hierbei mit größter Nachsicht rechnen«, sagte Narin. Anlaß der Erklärung war die gerichtliche Vernehmung des Zeugen Frank Liebau, der am Vortag erneut zur Herkunft der Tatwaffe der NSU-Mordserie aussagen sollte – und sich selbst widersprach, als es darum ging, welche Art von Waffen er selbst und sein Kompagnon im Jenaer Szeneladen Madley unter dem Ladentisch verkauft hatten.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. Januar 2014


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