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"Corelli" und das Täterwissen

NSU-Prozeß: Ein kürzlich verstorbener Ex-V-Mann könnte 2006 eine CD mit dem Namen der Terrorgruppe im Titel erstellt haben – fünf Jahre, bevor sie Außenstehenden bekanntwurde

Von Claudia Wangerin *

Eine 2006 erstellte CD mit dem Namen einer bis 2011 unbekannten Terrorgruppe im Titel wirft Fragen zum Tod eines früheren V-Mannes auf, der sie möglicherweise erstellt hat. Sicherheitskreisen zufolge soll Thomas Richter alias »Corelli« an den Folgen einer nicht erkannten Diabetes-Erkrankung verstorben sein. Noch vor der Obduktion, die dies inzwischen bestätigt haben soll, war in der zweiten Aprilwoche berichtet worden, daß es keine Anhaltspunkte auf Fremdeinwirkung gebe. Damit hatte man es vielleicht deshalb so eilig, weil der am 3. April tot aufgefundene Ex-V-Mann für das Bundesamt für Verfassungsschutz eine peinliche Altlast gewesen sein könnte.

Inzwischen befaßt sich ein Beweisantrag der Nebenklage im Münchner Prozeß um die rechte Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) mit dem möglichen Insiderwissen des früheren Neonazikaders, der 1994 vom Inlandsgeheimdienst angeworben und nur 39 Jahre alt wurde. Rechtsanwalt Peer Stolle verlangte vergangene Woche die Beiziehung sowohl der Akte über seinen Tod als auch einer kürzlich aufgetauchten CD mit dem Titel »NSU/NSDAP«, die nach einem Bericht des Spiegel kurz vor seinem Ableben dem Verfassungsschutz zugespielt worden war und bereits 2006 erstellt worden sein soll. Laut Spiegel enthält sie rund 15000 Bild- und Textdateien rassistischen und neonazistischen Inhalts. Einige davon soll »Corelli« selbst verfaßt haben. Besonders brisant ist aber das Alter der CD, da 2006 nur Eingeweihte von der Existenz des NSU wußten, der sich erst 2011 zu einer rassistischen Mordserie bekannte, die Behörden bis dahin nicht als Werk organisierter Neonazis erkennen wollten.

Nachdem Stolle die Beiziehung der CD verlangt hatte, kündigte Bundesanwalt Herbert Diemer an, seine Behörde werde sie untersuchen, um dann die Ergebnisse in den Prozeß einzubringen.

»Corelli« war bereits vor dem Auftauchen dieser CD in den Fokus der Nebenklagevertreter im NSU-Prozeß gerückt. Seine Nummer stand auf der Telefonliste, die 1998 kurz nach dem Untertauchen der heutigen Hauptangeklagten Beate Zschäpe und ihrer beiden Komplizen in einer von ihr gemieteten Garage in Jena sichergestellt worden war.

Seit 1994 war Richter bereits V-Mann des Verfassungsschutzes. Aktiv war er unter anderem in der seit 1992 verbotenen »Nationalistischen Front« sowie später in der deutschen Sektion des rassistischen »Ku-Klux-Klan« (KKK). Dort soll er den Rang eines »Kleagles«, also eines Anwerbers, gehabt haben. Das jedenfalls behauptete ein früherer V-Mann des baden-württembergischen Verfassungsschutzes – nämlich Achim Schmid, Gründer und Anführer der »European White Knights of the Ku-Klux-Klan« – gegenüber dem Bundeskriminalamt. Aufgrund seiner KKK-Verbindungen in Baden-Württemberg könnte »Corelli« auch im Dunstkreis des Mordes an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn gestanden haben. Zwei Kollegen von Kiesewetter, darunter der Vorgesetzte, der am Tag des Mordes die Beamten einteilte, waren ebenfalls Mitglieder des KKK. Die Bundesanwaltschaft hält die Polizistin aber für ein Zufallsopfer des NSU. Motiv: allgemeiner Haß auf den Staat, der die Gruppe so lange in Ruhe gelassen hatte.

* Aus: junge Welt, Montag, 5. Mai, 2014


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