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"Gerri" oder "Max"

NSU-Prozess: Laut Augenzeugin und Gutachten schob Uwe Böhnhardt in Köln das Fahrrad mit der Bombe. Anklage geht von Mundlos aus. Zschäpe-Anwälte fragen nicht nach

Von Claudia Wangerin *

Ankläger und Augenzeugen sind sich nicht einig, wer von den Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt das Fahrrad mit der Nagelbombe am 9. Juni 2004 zum Friseursalon in der Kölner Keupstraße geschoben hat. Eine heute 63jährige Augenzeugin sagte nach Medienberichten am Dienstag im Münchner NSU-Prozess, sie habe im nachhinein Böhnhardt als denjenigen erkannt, der ihr auf einem Trampelpfad auf einem Brachgelände in der Nähe der Keupstraße aufgefallen sei, weil er »das Fahrrad so behutsam geschoben« habe. Auf dem Gepäckträger habe sie eine auffallend große Kofferbox gesehen, die eher zu einem Motorrad gepasst habe. Die Beschreibung passt zu dem Fahrrad, auf dem der Sprengsatz montiert war und das vor der Explosion vor dem Geschäft des Friseurs an der Keupstraße abgestellt wurde. Der Mann sei schlank und sportlich gewesen und habe eine Radlerhose und ein T-Shirt getragen. Sie habe ihm für einen Moment auch ins Gesicht gesehen, sagte die Frau laut Nachrichtenagentur dpa. Als nach dem Auffliegen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) im November 2011 Bilder von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Fernsehen gezeigt wurden, habe das Foto von Böhnhardt bei ihr eine »wirklich heftige emotionale Reaktion« hervorgerufen. Bei dem Anschlag waren 22 Menschen mit überwiegend türkischem oder kurdischem Familienhintergrund verletzt worden, zum Teil schwer.

Die Bundesanwaltschaft hat sich allerdings darauf festgelegt, dass Uwe Mundlos das Fahrrad geschoben habe. Nebenklageanwalt Stephan Kuhn sagte am Mittwoch im Gespräch mit junge Welt, die Qualität der Überwachungsvideos sei schlecht, ein anthropologisch-biometrisches Gutachten stütze aber die Aussage der Zeugin, dass es Böhnhardt gewesen sei. Vor Gericht sei das Gutachten noch nicht referiert worden. Die Verteidiger der mutmaßlichen Mittäterin Zschäpe hätten hier auch nicht nachgefragt, sagte Kuhn.

Die Bundesanwaltschaft bezieht sich bei ihrer Zuordnung auf eine mutmaßliche Selbstbezichtigung von Mundlos unter dessen Tarnnamen »Max«. Sie befand sich auf einem Datenträger, der nach dem Tod der »beiden Uwes« in der Brandruine der Zwickauer Wohnung gefunden wurde, die sie mit Zschäpe geteilt hatten. Auf der Festplatte waren Dateien mit Filmsequenzen zu dem Kölner Attentat gespeichert, die auch im Propagandavideo des NSU auftauchen. Die Dateien mit den Bildern der Überwachungskamera tragen die Namen »gerri auf kamera.avi«, »max auf kamera.avi« und »max auf kamera von hinten.avi«. Mehrere Zeugen kannten Böhnhardt, der die Identität des Mitangeklagten Holger Gerlach nutzte, unter dem Spitznamen »Gerri«. Mundlos nannte sich dagegen »Max«. Dem Dateinamen zufolge handelt es sich dabei um den Fahrradschieber.

Schon vergangene Woche war vor dem Oberlandesgericht München deutlich geworden, wie nachlässig die Anklageschrift im Punkt Keupstraße vorbereitet war: Erst nach ihrer Fertigstellung hatten Experten des Bundeskriminalamts auf Anordnung des Richters einen Sprengversuch durchgeführt, um zu ermitteln, in welchem Umkreis die Bombe eine potentiell tödliche Splitterwirkung hatte.

Der Zeugin, die im nachhinein Böhnhardt erkannt hatte, war nach dem Anschlag im Sommer 2004 zwar ein Bild mit schlechter Qualität von der Überwachungskamera des Viva-Gebäudes gezeigt worden, allerdings keine Bilder von Neonazis, die wegen Sprengstoffdelikten gesucht wurden. Hätte das BKA die Erkenntnisse über die Bombe in seine Tatmittelmeldedatei eingegeben, hätte das Programm die Namen des 1998 in Jena untergetauchten Trios Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe ausgespuckt.

Eine weitere Zeugin sagte am Mittwoch laut dpa im NSU-Prozess, sie habe am Abend des 9. Juni 2004 auf Weisung der Polizei ihre Wohnung in Köln-Mülheim räumen müssen. Die Beamten hätten ihr gesagt, es gebe »eine Mitteilung, wonach eine zweite Bombe explodieren könnte«. Irritationen gab es in München um einen Nebenkläger, bei dessen Vernehmung sich vor Gericht herausstellte, dass er während der Explosion nicht am Tatort, sondern im Auto Richtung Keupstraße unterwegs war.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 29. Januar 2015


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