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Braunes Biotop

NSU-Prozeß. "Pogromly"-Spieler, "Typen", vergeßliche Zeugen, ein Richter, der seine Möglichkeiten nicht ausschöpft – und eine beobachtungswürdige Krankheit

Von Claudia Wangerin *

Um ein Brettspiel, dessen Teilnehmer für »judenfreie« Städte sorgen und Prämien für die Abwehr »roter Zecken« mit dem Maschinengewehr erhalten, ging es am Dienstag im Münchner Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Kriminalbeamte sollten diesen und andere Funde einer Razzia im Januar 1998 schildern. Das »Pogromly«-Spiel gilt als Beleg für die menschenverachtende Gesinnung, mit der das mutmaßliche NSU-Kerntrio seinerzeit untergetaucht war. Im Jahr zuvor sollen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und ihre inzwischen toten Kameraden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die faschistische Variante von »Monopoly« konzipiert und mehrfach angefertigt haben. Statt Straßen kaufen die Spieler Städte. Anstelle von Bahnhöfen gibt es vier Konzentrationslager, darunter auch das Vernichtungslager Auschwitz. Elektrizitäts- und Wasserwerk sind durch die Felder »Gaswerk« und »Arbeitsdienst« ersetzt. Mehrere Schlüsselfiguren aus dem Biotop, das dergleichen witzig fand, wurden in den letzten Monaten als Zeugen vernommen.

»Nicht unbedingt gesellschaftskonform« nannte der Neonazi André Kapke, Jugendfreund und Helfer des Trios, das Spiel am 21. November. Kapke, der Anfang Februar zum zweiten Mal vor dem Oberlandesgericht München erscheinen mußte, hatte nach Aussage des V-Mannes Tino Brandt nach dem Abtauchen des Trios einen Teil der Spiele in der Szene verkauft. An die näheren Umstände und den Stückpreis von 100 D-Mark – 50 für die Materialkosten und 50 als Lohn für das Trio – konnte sich Kapke vor Gericht angeblich nicht mehr erinnern. Dasselbe galt für die Umstände einer mißglückten Beschaffung falscher Papiere für die untergetauchten Kameraden. Ein »Typ«, empfohlen von Tino Brandt, habe ihm leere Pässe übergeben, für die er 1000 oder 1500 D-Mark gezahlt habe, so Kapke am 5. Februar. Die leeren Pässe wurden angeblich aus seinem Auto gestohlen.

Doch er ist nicht der einzige Zeuge aus der Thüringer Neonaziszene, der sich auf Gedächtnislücken beruft. Wer nicht an eine auffällige Häufung von Demenzerkrankungen bei unter 40jährigen in diesem Milieu glaubt, muß von einem hohen Prozentsatz handfester Falschaussagen ausgehen. Alternativ könnten sich die Befragten auf Paragraph 55 der Strafprozeßordnung berufen, der ihnen Aussageverweigerung erlaubt, wenn sie sich bei wahrheitsgemäßen Angaben selbst belasten könnten. Doch eben das scheinen viele nicht einräumen zu wollen. Diesen Eindruck hinterließ auch der frühere Mitinhaber des Jenaer Szeneladens »Madley«, Frank Liebau, dessen Kompagnon die Tatwaffe der NSU-Mordserie »unter dem Ladentisch« verkauft haben soll. Manches hatte sich Liebau laut Protokoll der polizeilichen Vernehmung mehr als zehn Jahre lang gemerkt, konnte sich aber vor Gericht nicht mehr daran erinnern. Das betraf auch die Frage, ob der Mitangeklagte Ralf Wohlleben ihn einmal nach einer Waffe gefragt und er ihn an seinen Partner Andreas Schultz verwiesen habe.

Einen »erstaunlich nachgiebigen Umgang« mit »mauernden Nazizeugen« warf Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann in seinem Blog dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl nach der jüngsten Vernehmung des Zeugen Kapke vor. Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten hatte auf eine der vielen angeblichen Erinnerungslücken mit dem halb an Götzl gerichteten Satz reagiert: »Wenn ich ein Vernehmungsrecht hätte und nicht nur ein Fragerecht, dann würde ich Ihnen stark empfehlen, sich jetzt einen Ruck zu geben.« Götzl aber sprang ihm nicht zur Seite.

Mit Tino Brandt hätte vergangene Woche eine der schillerndsten Figuren in den Zeugenstand treten sollen – der Mann, der Kapke den Kontakt zu dem »Typen« mit den leeren Pässen vermittelt haben soll, war Anführer des »Thüringer Heimatschutzes«, in dem sich Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe radikalisiert hatten. 1994 hatte ihn das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) im Alter von 19 Jahren als V-Mann gewonnen. Bis zu seiner Enttarnung sechs Jahre später zahlte es ihm etwa 200000 D-Mark an Honoraren. Dazu hatte Brandt in seiner Vernehmung bei der Bundesanwaltschaft im Januar 2012 erklärt, dies sei »eine Win-Win-Situation« gewesen: »Ich hatte Geld für meine politische Arbeit und für mich persönlich, und der Verfassungsschutz hat offenbar die Informationen bekommen, die er brauchte, wobei ich mit der Informationsweitergabe, wie ich sie betrieben habe, leben konnte.«

Prozeßbeobachter hatten Brandts Aussage mit Spannung erwartet. Doch am Tag vor seiner geplanten Vernehmung teilte die Pressestelle des Gerichts mit, im Umfeld des Zeugen sei eine Krankheit aufgetreten, »die vom Gesundheitsamt überwacht wird«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 19. Februar 2014


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