Die Wege des Agenten
Spähte ein Verfassungsschützer Tatorte der NSU-Mordserie aus? Nebenklagevertreter einer Opferfamilie stellen brisanten Beweisermittlungsantrag
Von Claudia Wangerin *
Die Anwälte der Familie Yozgat wollen im Münchner Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) den früheren Verfassungsschützer Andreas Temme genauer unter die Lupe nehmen. Mit den regelmäßigen Wegstrecken des Beamten, der am 6. April 2006 beim Kasseler NSU-Mord an dem 21jährigen Halit Yozgat am Tatort war, befaßt sich ein Beweisermittlungsantrag, den die Nebenklagevertreter am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München stellten. Temmes Angaben über regelmäßige Fahrt- und Wegstrecken sollen demnach mit den Markierungen möglicher Tatorte in Kassel auf dem Kartenmaterial der mutmaßlichen NSU-Terroristen abgeglichen werden, das Ende 2011 in der Brandruine ihrer Wohngemeinschaft in der Zwickauer Frühlingsstraße sichergestellt wurde.
Der ehemalige V-Mann-Führer des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz ist in diesem Prozeß als Zeuge geladen, galt aber im Jahr 2006 vorübergehend als Hauptverdächtiger, weil er sich als einziger von mehreren Besuchern des Internetcafés, in dem Yozgat ermordet wurde, nicht als Zeuge bei der Polizei gemeldet hatte. Anhand seiner Login-Daten konnte seine Anwesenheit zur Tatzeit belegt werden, er selbst will aber nichts von dem Mord bemerkt und auch die Leiche hinter dem Tresen nicht gesehen haben, als er das Internetcafé verließ. Diese Version tischte Temme vor drei Wochen auch dem Münchner Gericht und rund ein Jahr zuvor dem Untersuchungsausschuß des Bundestags auf. Die Nebenklage konnte Temme im Prozeß allerdings noch nicht vernehmen. Er soll erneut geladen werden.
Unterdessen verlangen die Anwälte Thomas Bliwier, Doris Dierbach und Alexander Kienzle im Auftrag der Familie Yozgat Nachermittlungen. Diese würden ergeben, »daß mit lediglich einer Ausnahme sämtliche dem NSU zugeschriebenen Markierungen möglicher Tatorte in Kassel sowie der Tatort in der Holländischen Straße 82 an den von dem ehemaligen Beschuldigten Temme regelmäßig genutzten Fahrstrecken oder anderen mit seiner Person in Zusammenhang stehenden Örtlichkeiten in Kassel liegen«, heißt es in dem Antrag. Mit Blick auf die mögliche Ausspähung der Tatorte sei dies für die Schuldfrage »von evidenter indizieller Bedeutung«. Ein Stadtplanauszug liegt bei.
Temme hatte am Tag des Mordes an Halit Yozgat zudem noch mit einem V-Mann aus der Neonaziszene telefoniert. Der Beamte selbst beschrieb nach Aktenlage seine politische Gesinnung als »konservativ«. Als er 2011 nach Aufdeckung des NSU erneut in die Schlagzeilen geriet, erzählten Nachbarn Journalisten, er sei auch unter dem Spitznamen »Klein-Adolf« bekannt gewesen. Bisher beruft er sich nicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht nach Paragraph 55 der Strafprozeßordnung, das ihm zusteht, wenn er sich mit einer Aussage selbst belasten würde. Die Bundesanwaltschaft geht in der Anklageschrift davon aus, daß die Hauptbeschuldigte Beate Zschäpe mit zwei mittlerweile toten Komplizen die zehn NSU-Morde sowie mehrere Raubüberfälle und Sprengstoffanschläge plante. Am Dienstag sagte vor Gericht eine Zeugin aus, die Zschäpe oder eine ähnlich aussehende Frau 2005 in der Nähe eines NSU-Tatortes in Nürnberg gesehen haben will. Sie war sich am Dienstag »nicht hundertprozentig sicher«, daß es sich um Zschäpe gehandelt hatte, konnte sich aber an die Begegnung erinnern, weil die Frau auch einer Schauspielerin aus der Serie »Roseanne« ähnelte.
* Aus: junge welt, Mittwoch, 23. Oktober 2013
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