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Robust im Umgang

Wie steht es für Beate Zschäpe im NSU-Prozeß? Das Rollenverhalten der mutmaßlichen Neonaziterroristin und die Grundstruktur der Mittäterschaft

Von Claudia Wangerin *

Das Selbstbewußtsein von Beate Zschäpe ist immer wieder Thema bei Zeugenbefragungen im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU). Der Cousin der mutmaßlichen Neonaziterroristin hat am Mittwoch vergangener Woche in etwa bestätigt, was er schon in polizeilichen Vernehmungen zu berichten wußte: »Robuster im Umgang als andere Frauen« sei sie schon in den 1990er Jahren gewesen, heißt es im Protokoll der Vernehmung von Stefan A. durch das Bundeskriminalamt im Februar 2012. Auf Sätze wie »Sie hat auch mal gesagt, wo es langgeht, und kein Blatt vor den Mund genommen« stützt sich die Anklage gegen die heute 38jährige.

Aussagen über ihr alltägliches Rollenverhalten sind so bedeutend, weil sie laut Anklageschrift an keinem der Tatorte gewesen sein muß. Sie gilt aber als gleichberechtigte Planerin von zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und mehreren Raubüberfällen, die ihre Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ausgeführt haben sollen. Mit dem Tod der beiden Männer, so sieht es die Bundesanwaltschaft, sei der NSU aufgelöst. Einzige Überlebende: Beate Zschäpe. Andere gehen von einem größeren Netzwerk aus und wollen auch die Rolle staatlicher Akteure untersuchen. Engagierte Nebenklagevertreter betonten schon vor Beginn der Hauptverhandlung im Mai, daß es ihnen nicht um ein bestimmtes Strafmaß für Zschäpe und ihre mutmaßlichen Helfer gehe, sondern um umfassende Aufklärung. Die könnte allerdings entscheidend vorangebracht werden, sollte die Hauptangeklagte im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des NSU ihr Schweigen brechen – da sind sich Ankläger und Nebenkläger einig.

Auch der mutmaßliche NSU-Helfer Holger Gerlach, der von den Morden nichts geahnt haben will, als er ihren Komplizen Papiere auf seinen Namen zur Verfügung stellte und das Trio zu »Systemchecks« traf, hat Zschäpe belastet: »Sie war nach meiner Meinung gleichberechtigtes Mitglied«, so Gerlach im Januar 2012 zu ihrer Stellung innerhalb des mutmaßlichen NSU-Kerntrios. Auf Nachfrage sprach er allerdings von einer Hierarchie unter Freunden, in der Mundlos und Böhnhardt »im Prinzip gleichberechtigt am weitesten oben standen«, dicht gefolgt von Zschäpe. Direkt unter ihr stand demnach der als Helfer angeklagte Ralf Wohlleben. In einer Erklärung, die Gerlach im Frühsommer vor Gericht verlas, drückte er sich allerdings schwammiger aus, sprach nur von Handlungen »der Drei«. Böhnhardts Mutter nannte das Trio in ihrer Zeugenaussage einerseits »gleichberechtigt, Freunde«, sagte aber an anderer Stelle, Zschäpe sei in ihrer Gegenwart »schüchtern und zurückhaltend« gewesen.

Mit klassischen kriminalistischen Beweismitteln kann Zschäpe noch am leichtesten der Brandstiftung in ihrer eigenen Zwickauer Wohngemeinschaft am 4. November 2011 überführt werden: An ihren sichergestellten Socken fanden sich Benzinspuren. Ob Zschäpe dabei bewußt den Tod einer Nachbarin in Kauf nahm, sollte ursprünglich durch die Zeugenaussage der inzwischen über 90jährigen Betroffenen Charlotte E. vor Gericht geklärt werden. Die gesundheitlich schwer angeschlagene Frau gilt aber als nicht reisefähig – und ist nach Aussage von Ärzten und Angehörigen unter anderem demenzkrank. Zschäpes Anwälte haben dennoch eine Videovernehmung beantragt. Unklar ist, ob Zschäpe bei ihr klingelte, um sie zu warnen.

Da Zschäpe das Feuer kaum ohne Grund gelegt haben wird, muß sie logischerweise auch von weiteren Straftaten gewußt haben, deren Spuren damit verwischt werden sollten. Selbst ohne ihre Vorgeschichte in der Jenaer Neonaziszene und das gemeinsame Untertauchen mit Mundlos und Böhnhardt dürfte sie kaum angenommen haben, daß die beiden das gemeinsame Geld auf legale Weise verdienten. Nach Zeugenaussagen von Urlaubsbekanntschaften soll Zschäpe dieses Geld aber sogar verwaltet haben. Die gemeinsame Zeit in der braunen Szene, die durch zahlreiche Fotos und Zeugenaussagen dokumentiert ist, legt zudem nahe, daß sie nicht nur von den Finanzierungsaktionen für das Leben nach dem Untertauchen 1998, sondern auch von den rassistischen Morden und Sprengstoffanschlägen wußte.

Kriminalistische Beweismittel, die auf ein solches Wissen hindeuten, werden von der Verteidigung allerdings günstig für ihre Mandantin interpretiert: In der Brandruine wurde ein 68 Artikel umfassendes Zeitungsarchiv zu der Mordserie gefunden. Obwohl Fingerabdrücke auf Papier schwer zu sichern sind, fanden sich an zwei Artikeln solche von Zschäpe. Ihr Anwalt Wolfgang Stahl wertete dies am 9. Oktober als Beweis dafür, »daß nur ein ganz seltener Kontakt zu diesen Zeitungsartikeln bestanden haben kann« – nicht etwa dafür, daß sie an der Erstellung des Archivs beteiligt war.

Ob es sich um Mittäterschaft oder »nur« um Beihilfe handelt, das hängt nicht nur vom objektiven Tatbeitrag ab, sondern von der bewußten Willensrichtung. »Schmiere stehen« oder – wie im Fall Zschäpe – die Tarnung einer verbrecherischen Dreiergruppe durch eine freundliche, lockere bürgerliche Fassade – kann je nach Wissen, Willen und Stellung in der Gruppe Täterschaft oder Beihilfe sein. Ein Wiedererkennen durch Augenzeugen, die sich inzwischen meldeten und Zschäpe zeitnah zu Morden in Nürnberg und Dortmund gesehen haben wollen, gilt nach mehreren Jahren jedoch als problematisch.

* Aus: junge Welt, Montag, 2. Dezember 2013


"Vertrauliche, fast freundschaftliche Beziehung"

Ex-Geheimdienstler und V-Mann morgen als Zeugen im NSU-Prozeß. Nebenklage sieht sich durch Gericht in der Vorbereitung behindert

Von Claudia Wangerin **


Die Anfang Oktober begonnene Zeugenbefragung des früheren Geheimdienstmannes Andreas Temme soll am Dienstag in die zweite Runde gehen – doch die Nebenklagevertreter im Münchner Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) sehen sich in ihrer Arbeit behindert. Das Oberlandesgericht München hat am Donnerstag die Beiziehung von Akten abgelehnt, die nach Einschätzung der Anwälte zur Vorbereitung der Fragen an Temme benötigt werden. Ohne die vollständigen Ermittlungsakten aus seiner Zeit als Beschuldigter könne sich die Nebenklage nur mangelhaft vorbereiten, sagte Rechtsanwalt Alexander Kienzle am Freitag gegenüber junge Welt.

Dabei geht es nicht zuletzt um Temmes Verhältnis zu einem V-Mann aus der Neonazigruppierung Sturm 18 in Kassel. Temme, damals Quellenführer des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, war beim NSU-Mord an Halit Yozgat in dessen Internetcafé im April 2006 am Tatort gewesen, hatte sich aber nicht als Zeuge gemeldet und galt deshalb zunächst als Hauptverdächtiger. Der besagte V-Mann Benjamin Gärtner, mit dem er am Tag des Mordes telefoniert hatte, soll am Dienstag ebenfalls als Zeuge vor Gericht vernommen werden.

Temmes Vorgesetzte hatten seinerzeit die Ermittlungen blockiert und den Schutz seiner Quellen über das Aufklärungsinteresse an dem Mord gestellt, das Verfahren gegen Temme wurde schließlich eingestellt. Bei den Ermittlungsbeamten war zuvor der Eindruck entstanden, der Verfassungsschützer pflege zu der V-Person – in seinem Handy abgespeichert als »Ben« – eine »vertrauliche, fast freundschaftliche Beziehung«. Dieser Eindruck könne nur anhand der vollständigen Ermittlungsakten nachvollzogen werden, argumentiert nun die Nebenklage.

Die Telefonüberwachung war eingeleitet worden, bevor die Polizei von seiner Tätigkeit für den Inlandsgeheimdienst wußte – Temme war anhand seiner Login-Daten im Internetcafé und der Profilinformationen in einem Chatportal ausfindig gemacht worden.

Nach Aufdeckung des NSU im November 2011 geriet er erneut in die Schlagzeilen, weil die Mordserie an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund nun einer Szene zugeordnet werden konnte, in der auch Temme einen V-Mann führte. Außerdem erzählten frühere Nachbarn des hauptamtlichen Verfassungsschützers, seine politischen Ansichten hätten ihm den Spitznamen »Klein Adolf« eingebracht.

In der ausgebrannten Zwickauer Wohngemeinschaft des mutmaßlichen NSU-Kerntrios wurde zudem ein Stadtplan von Kassel mit mehreren Markierungen möglicher Tatorte gefunden – darunter auch das Internetcafé, in dem Yozgat starb. Die Anwälte der Familie stellten in einem Beweisermittlungsantrag im Oktober fest, daß die ausgespähten Objekte mit nur einer Ausnahme an von Temme regelmäßig genutzten Fahrt- und Wegstrecken oder anderen mit seiner Person in Zusammenhang stehenden Örtlichkeiten liegen.

Die Nebenklagevertreter der Familie Yozgat durften die Ermittlungsakten gegen Temme zumindest einsehen, andere Verfahrensbeteiligte kennen sie nicht. Das Gericht hat allerdings die Beiziehung von Aktenbestandteilen beschlossen, darunter ein Vermerk zur Befragung Temmes durch eine Kollegin namens Ehrig am 10. April 2006, in der er seinen Besuch in dem Internetcafé abgestritten haben soll, eine dienstliche Erklärung Temmes und ein kognitives Interview durch Polizeipsychologen, denen Temme »scheinangepaßt« erschien. Der Rest der beantragten Akten führe »zu keinem für die Schuld- und Straffrage relevanten Erkenntnisgewinn« in diesem Verfahren, argumentiert das Gericht.

** Aus: junge Welt, Montag, 2. Dezember 2013

»Beweismittel völlig ausreichend«

Mehrere Nebenklagevertreter haben im Münchner NSU-Prozeß ein sprachwissenschaftliches Gutachten gefordert, das Beate Zschäpe anhand ihrer Gefängnisbriefe als Mitautorin eines Propagandaschreibens überführen soll, um die These der Mittäterschaft zu erhärten. Anlaß für den Beweisantrag vom 14. November war ein Artikel im Magazin Stern, das bereits zwei Sprachwissenschaftler mit einer solchen Analyse beauftragt hatte. Das sogenannte »Manifest« des »Nationalsozialistischen Untergrunds« war als Computerdatei in der Brandruine der Zwickauer Wohngemeinschaft gefunden worden, in der die Hauptangeklagte mit ihren mutmaßlichen Komplizen gelebt hatte.

Bedenken gegen den Beweisantrag äußerten aber die Nebenklageanwälte Eberhard Reinecke und Reinhard Schön: »Soweit wir uns mit forensischer Linguistik beschäftigt haben, ist es ein Methodenbruch, einen Text, der ein öffentliches Manifest darstellen soll, mit einem persönlichen Brief zu vergleichen«, so die Anwälte in einer Stellungnahme vom 27. November. »Es erscheint uns auch nicht möglich, im Rahmen einer linguistischen Textanalyse eine ›Mitarbeit‹ festzustellen.« Wenn unbekannt sei, wie viele Personen ihre Gedanken beigesteuert hätten, dann könnten »Teile« nicht analysiert werden. »Die Teile, die ›passen‹, werden einem Autor zugeschrieben, und die Teile, die ›nicht passen‹, sind dann der zweite, dritte oder vierte Beteiligte. Geht es um das Schriftbild, so kommt es ohnehin darauf an, wer getippt hat, nicht auf den geistigen Urheber.«

Zudem solle kein falscher Eindruck vom Stand des Verfahrens entstehen: »Aus unserer Sicht werden die bisher bekannten Beweismittel völlig aus­reichend sein, um Frau Zschäpe zu überführen.« In der Akte existiere bereits ein Behördengutachten zum »NSU-Brief«. Daraus zitieren die Anwälte Allgemeinplätze: »Der Autor des Schreibens NSU1 verfügt über muttersprachliche Kompetenz des Deutschen. Hinweise auf regionale bzw. dialektale Besonderheiten liegen nicht vor. Als Autor ist ein reifer Mensch anzunehmen. Der Text zeigt eine mittlere bis gute schriftsprachliche Kompetenz.« Der Autor sei aber nicht geübt im professionellen Erstellen von Texten. Das Vokabular sei »typisch für Schreiben des Rechtsextremismus«. (clw)




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