Sackgasse bevorzugt
NSU-Prozeß: Kriminalist sagte vor OLG München zu zwei Morden in Nürnberg aus. Polizei verbiß sich in falsche Hypothesen und drangsalierte Familien der Opfer
Von Sebastian Carlens, München *
Zwei Morde, in den Jahren 2000 und 2001 in Nürnberg begangen, beschäftigten das Münchner Oberlandesgericht (OLG) am Donnerstag. Beide Taten werden heute dem »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) zugerechnet. Das war lange Zeit anders. Warum die Polizei jahrelang in falsche Richtungen ermittelte, bleibt eine der wichtigsten Fragen im gesamten NSU-Komplex, hätten doch weitere Morde verhindert werden können, wenn die Täter nur an der richtigen Stelle gesucht worden wären. Der damals ermittelnde Kriminalhauptkommissar Albert Vögeler, der bereits vor dem NSU-Untersuchungsausschuß des Bundestags Rede und Antwort stehen mußte, war am Donnerstag vor dem OLG als Zeuge geladen.
Enver Simsek, Blumenhändler aus dem hessischen Schlüchtern, wurde am 9. September 2000 in Nürnberg an seinem mobilen Verkaufsstand erschossen – er gilt als erstes Opfer der sogenannten Ceska-Mordserie. Für die Polizei war der Fall Simsek zunächst nur ein Tötungsdelikt von vielen. Die Beamten drehten sein privates Umfeld um, befragten Kollegen, Angestellte und Verwandte. Ein konkurrierender türkischstämmiger Großhändler, dem Simseks geschäftlicher Erfolg nicht gepaßt haben soll, geriet ins Visier der Fahnder, auch Unregelmäßigkeiten bei der Steuer konnten beim ersten NSU-Mordopfer ermittelt werden. Simsek war von allen Seiten als freundlicher, gläubiger Mann beschrieben worden, persönliche Feinde soll er nicht gehabt haben. Die Fahnder gingen dem Verdacht nach, daß Simsek eine Freundin gehabt haben könne, griffen zu »operativen Maßnahmen« gegen die Familie, verwanzten deren Fahrzeug und konfrontierten die Witwe mit allerlei Verdächtigungen – ohne konkrete Spur. Die angebliche Freundin hatte nie existiert, dem Konkurrenten konnte nichts nachgewiesen werden. Die Polizisten standen vor einem Rätsel, hatten jedoch das Gefühl, die Familie des Ermordeten könne »nicht alles erzählt« haben, so Vögeler vor Gericht. Simseks Verwandte blieben im Fokus der Ermittler, auch als es ein knappes Jahr später, am 13. Juni 2001, zu einem weiteren Mord mit derselben Tatwaffe kam.
Abdurrahim Özüdogru, Schichtarbeiter beim Nürnberger Rüstungsproduzenten Diehl, war in seiner nebenher betriebenen Änderungsschneiderei erschossen worden. Simsek und Özüdogru kannten sich nicht. Auch bei Özüdogru konnten keine persönlichen Auffälligkeiten gefunden werden. Seine Frau lebte seit einigen Jahren von ihm getrennt, die Schneiderei betrieb ihr Mann nach ihrem Auszug weiter, ohne nennenswerten Umsatz zu erzielen. Doch mit seinem Einkommen von rund 3500 Mark im Monat bei Diehl seien seine finanziellen Verhältnisse »geordnet« gewesen, sagte Vögeler. Im Wagen des Toten will ein Gutachter schließlich auf dem Beifahrersitz »feinste Spuren von Betäubungsmitteln« entdeckt haben, im Notizbuch der geschiedenen Frau tauchte eine obskure englische Telefonnummer auf. Doch auch diese Spuren führten nirgendwohin: Die angeblichen Drogenreste im Auto, das Özüdogru gebraucht gekauft hatte, könnten auch »Übertragungsspuren« gewesen sein, mußte der Gutachter einräumen. Die Telefonnummer stellte sich als Anschluß einer Gaststätte heraus, die von Bekannten betrieben wurde. Die Ermittler traten auf der Stelle, mehr als zehn Jahre lang.
Warum erkannten die Beamten nicht, in eine Sackgasse geraten zu sein? Die Witwe Enver Simseks hatte frühzeitig den Verdacht geäußert, daß es sich um ein fremdenfeindliches Delikt handeln könne, räumte Vögeler am Donnerstag ein. Die Hintergründe bei Tötungsdelikten seien jedoch in »60 bis 70 Prozent der Fälle im familiären Kontext zu suchen«, so der Beamte. Ob dies auch für ganze Mordserien an Personen, die keinerlei Kontakt zueinander hatten, gelte, wollte Nebenklageanwalt Yavuz Narin von dem Zeugen wissen. Dies mußte Vögeler verneinen, ein solcher Fall sei ihm »nicht bekannt«.
Weder Drogen, noch Schutzgeld oder Familiendramen steckten hinter den Morden an Simsek, Özüdogru und acht weiteren Menschen. Im Fall der Polizistin Michèle Kiesewetter ist das genaue Motiv unklar – die neun NSU-Mordopfer mit Migrationshintergrund mußten sterben, weil selbsternannte Herrenmenschen ihnen das Recht auf Leben absprachen. Die Polizei hatte sich verrannt, nach reiner Wahrscheinlichkeit operiert und mit exorbitantem Fahndungsaufwand lediglich kleine Unregelmäßigkeiten in den Biographien der Opfer gefunden – Unregelmäßigkeiten, die in dieser oder anderer Form bei vielen Menschen zu finden wären, wenn sie ohne Zutun Opfer eines Mordes würden. Die Crème de la crème der deutschen Mordermittler versagte auf eine in der bundesdeutschen Geschichte einmalige Weise.
Am Donnerstag mittag erinnerte die ver.di-Jugend vor dem Münchner OLG mit einer Mahnwache an die Opfer des NSU und 172 weitere Menschen, die durch neofaschistische Gewalt seit 1990 gestorben waren. »Kein Vergessen«, lautete das Motto der Kundgebung. Die Familien der Ermordeten erwarten zu Recht mehr.
* Aus: junge Welt, Samstag, 3. August 2013
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