Spiel mit den Erinnerungslücken
Aussagen des Angeklagten Schultze im NSU-Prozess bringen nur wenig Erkenntnis
Von René Heilig, München *
Dem Angeklagten Carsten Schultze ist gestern Vormittag »noch was eingefallen«. Er schilderte ein, zwei Details, die seinen Willen, »reinen Tisch« mit Vergangenem zu machen, unterstreichen sollten. Eigentlich aber zog er sich auf das gewohnte Spiel »Weiß ich nicht...« zurück.
Im Jahr 2000 will Carsten Schultze ausgestiegen sein aus der Neonaziszene. Das war vor 13 Jahren. Er zog weg aus Thüringen, studierte, wurde Sozialpädagoge und Ansprechpartner für Schwule und Aids-Betroffene.
Schultze hat sich im NSU-Prozess – so wie der gleichfalls beschuldigte Holger Gerlach – zur Aussage entschlossen, und nun erwartet man von dem heute 33-Jährigen klare Worte zu seinem Treiben als Heranwachsender. Doch der Mann, der die wichtigste Mordwaffe des NSU-Trios, die Ceska-Pistole mit Schalldämpfer, beschafft und an Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt übergeben hat, verschanzt sich im NSU-Prozess in – echten oder vorgeblichen – Erinnerungslöchern. Wenn jemand nach der Ideologie fragt, der er als Funktionär der NPD und in deren Jugendverband JN angehangen hat, wird es nicht besser. Ja, er hat mit anderen eine Dönerbude umgeworfen. Warum? Weil man »denen eins auswischen« wollte. Denen? »Den Betreibern... wir wussten doch nicht einmal, ob das Deutsche oder Türken sind«, behauptet er und schiebt nach: Er habe auch nie »Nigger oder so was« gesagt.
Der Mitangeklagte Gerlach hatte bei seiner polizeilichen Vernehmung gesagt, Schultze sei die »rechte Hand« von Ralf Wohlleben gewesen. Hier konnte man ansetzen, um den Grund des »Rechtsseins« und Schultzes individuelle Verantwortung zu hinterfragen. Die zähen »Verständigungsfragen« seitens der Nebenklageanwälte wechselten schließlich zu gehaltvollerem Interesse an der Motivation des schmächtigen jungen Mannes. Der habe als JN-Funktionär junge Leute für »die Sache« gewinnen wollen, hatten einstige Kameraden bei polizeilichen Vernehmungen ausgesagt. Als der Angeklagte gefragt wurde, was er damit meine, blieb er unscharf. Es sei unter anderem um »Nationalbewusstsein« und »das Kapital« gegangen. Frage: Wollten Sie, dass die ausländischen Mitbürger Deutschland verlassen? Antwort: »Wir waren dafür.«
Neonazi-Aktivist André Kapke hat bei seiner Vernehmung Schultze als »zuverlässig« bezeichnet. Er sei ein Mann, der mit der Zeit »politisch gefestigt« und »leidenschaftlich in der Argumentation« geworden sei. Keinesfalls ein »Mitläufer«. Doch der Mann aus der zweiten Reihe der Angeklagten konnte – oder wollte? – wenig über die Innereien der Jenaer Neonazibewegung erklären. Woher kamen die Plakate? Wer hat die Aufkleber bezahlt? Vieles vermag er auch nur zu erklären, weil er es in den Akten gelesen hat. Darunter waren auch zahlreiche Erkenntnisse, die der Verfassungsschutz bereits damals über das Terrortrio und seine Unterstützer gewonnen hatte. Dafür, dass die Behörden nicht eingegriffen und dem Ganzen ein Ende bereitet haben, hatte der Angeklagte auch im Nachhinein nicht die geringste Erklärung. Wie auch?
Der Vorsitzende Richter, Manfred Götzl, appellierte mehrmals an die Vertreter der Nebenklage, die Fragen konkreter und weniger suggestiv zu stellen. Für die Verteidigung von Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe brachte der gestrige Prozesstag leicht verdienten Lohn. Sie hat nur Fragen der Nebenklage beanstandet. Beate Zschäpe, die sich wegen Mittäterschaft bei zehn Morden verantworten muss, trank derweil viel Saft und spielte mit leeren Pappbechern.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. Juni 2013
Carsten S. und der MAD
NSU-Prozeß: Militärgeheimdienst und Details zum Waffenkauf bringen Angeklagten in Bedrängnis. Der Verfassungsschutz war ihm dicht auf den Fersen
Von Claudia Wangerin, München **
Zwischen dem Rückzug des Carsten S. aus der rechten Szene in Jena und der Aufdeckung des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) im November 2011 lagen mehr als zehn Jahre – dem Thüringer Verfassungsschutz war der mutmaßliche Terrorhelfer schon frühzeitig als Kontaktmann der untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bekannt. S. bestätigte am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München, er habe noch zu seiner aktiven Zeit mit dem V-Mann Tino Brandt über seine konspirative Funktion gesprochen. Niemand außer Brandt käme als der »Hinweisgeber« in Betracht, dem S. laut Aktenvorhalt sagte, er solle sein Handy ausschalten, bevor er ihm mitteilte, daß er jetzt den Kontakt zu den Untergetauchten halte.
Brandt hatte die Information laut Untersuchungsbericht für die Landesregierung auch an den Verfassungsschutz weitergeleitet. Was genau die Behörde daraufhin unternahm, ist bis heute nicht bekannt. Jedenfalls fühlte sich S. zeitweise beobachtet. Als er um das Jahr 2000 Observationsfahrzeuge wahrnahm, meldete er sich bei der Polizei in Jena und beschwerte sich bei einem Staatsschutzbeamten namens König. Nach eigener Aussage erklärte S. dem Polizisten, er sei aus der rechten Szene ausgestiegen und werde verfolgt. Er habe an »Polizei oder ähnliches« gedacht und »Bammel gehabt«, die Verfolger wollten ihn »wieder zurückschicken«, hatte S. schon zu Beginn seiner Vernehmung in der vorletzten Prozeßwoche ausgesagt.
Ganz anders stellt sich die Situation in den Akten des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) dar. Zu dem will S. zwar nach eigener Kenntnis keinen Kontakt gehabt haben, schränkt aber ein, es sei möglich, daß bei seiner Musterung jemand dabeigewesen sei, der sich »nicht geoutet« habe.
Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer hielt S. am Dienstag vor, dem MAD sei dienstlich bekanntgeworden, daß S. im Jahr 2001 ein Aussteigerprogramm angeboten worden sei. Laut MAD-Aktenvermerk soll er dies abgelehnt haben, weil er sich »der nationalen Bewegung nach wie vor uneingeschränkt zugehörig fühle«. S. bestritt am Dienstag, daß ihm dieses Angebot gemacht wurde. Nach seiner Schilderung begann sein Ausstieg im Jahr 2000 damit, daß er »die Füße still gehalten« habe. Ein Grund sei gewesen, daß er sich in der Szene nicht problemlos zu seiner Homosexualität bekennen konnte. Als er Landesvorsitzender der NPD-Jugendorganisation »Junge Nationaldemokraten« (JN) werden sollte, habe er einen Coming-out-Film gesehen. Seine Hilfeleistungen für das untergetauchte Trio wollte er nach diesem Rückzug niemandem offenbaren. »Für mich war klar, daß ich nix sage«, erklärte S. am Dienstag vor Gericht. Das habe er damals auch dem Mitangeklagten Ralf Wohlleben gesagt, den er inzwischen erheblich belastet. Carsten S., heute 33 Jahre alt und Sozialpädagoge, will Gedanken an diesen Teil seiner Vergangenheit immer wieder »weggeschoben« haben, nachdem er von Thüringen ins Ruhrgebiet gezogen war.
Heute wird ihm Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Die Lieferung der Ceska-Pistole, mit der höchstwahrscheinlich neun Männer mit Migrationshintergrund erschossen wurden, hat er gestanden. Der für die Mordserie wichtige Schalldämpfer sei aber gar nicht bestellt gewesen – weder von ihm noch von Wohlleben oder den mutmaßlichen Haupttätern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Bei dieser Darstellung blieb S. am Dienstag, als ihm die Aussage des Waffenverkäufers in der polizeilichen Vernehmung vorgehalten wurde. »Es war definitiv so, daß die einen Schalldämpfer bestellt haben«, zitierte Nebenklageanwalt Thomas Bliwier aus dem Protokoll.
Während sich die Befragung von S. in die Länge zieht, hat die Bundesanwaltschaft weitere Ermittlungen gegen die Hauptbeschuldigte Beate Zschäpe wegen eines Sprengstoffanschlags in Nürnberg im Jahr 1999 aufgenommen. Der NSU-Untersuchungsausschuß des bayerischen Landtags vernahm am Dienstag Polizeibeamte, um zu klären, ob das Kürzel NSU und seine Bedeutung bereits 2006, 2007 oder 2008 in einer dienstlichen Besprechung eine Rolle gespielt hätten. Zumindest einer der Beamten will es in diesem Zeitraum gehört haben.
** Aus: junge Welt, Mittwoch, 19. Juni 2013
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