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NSU: Gefüllte Lücken

Neue Aussage von Carsten S. wirft Frage nach weiteren Anschlägen auf. Angeklagter Wohlleben stärker belastet als Zschäpe

Von Claudia Wangerin, München *

Carsten S. hat nachgelegt. »Ich bin an einen Punkt gekommen, wo ich reinen Tisch machen möchte«, sagte der 33jährige Angeklagte am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München. Seine Aussagen in der vergangenen Woche waren von vermeintlichen Erinnerungslücken geprägt, die er jetzt schrittweise zu füllen beginnt. S. wird Beihilfe zur Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) vorgeworfen. Was er nun – teils unter Tränen – gestand, zeigt deutlich, daß die Folgen seines Handelns für ihn absehbar waren, als er den mutmaßlichen Haupttätern eine Pistole vom Typ »Ceska 83« mit Schalldämpfer übergab. Daß er das tat, hat er bereits in polizeilichen Vernehmungen sowie vor Gericht gestanden. Bis gestern wollte er sich aber nicht erinnern, was er im Alter von 19 oder 20 Jahren über den Verwendungszweck der Waffe dachte.

Nach seiner neuesten Schilderung gaben ihm die untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nicht nur einen deutlichen Hinweis auf geplante oder schon begangene Anschläge, sie gaben ihm auch zu verstehen, daß die von ihm gelieferte Schußwaffe nicht die einzige in ihrem Besitz sei. Zudem erfuhr S. nach eigener Aussage von seinem Mitangeklagten Ralf Wohlleben, daß die beiden einen Menschen angeschossen hätten.

Ende 1999 oder Anfang 2000 traf er die Gesuchten am Chemnitzer Hauptbahnhof – genauer kann er den Zeitpunkt heute nicht mehr eingrenzen. In einem nahegelegenen Café hätten sie sich mit ihm zunächst über Handys unterhalten, dann hätten sie ihm zu verstehen gegeben, daß sie immer bewaffnet seien. Einer tippte dabei nach seiner Erinnerung auf einen Rucksack. Das habe er komisch gefunden, denn er habe ja die Waffe gebracht. »Irgendwie hatte ich eine Maschinenpistole oder Uzi im Kopf.« Er wisse aber nicht mehr genau, ob das jemand gesagt habe.

Die Tränen kommen ihm bei dem Satz: »Dann haben die gesagt, daß sie in Nürnberg in irgendeinem Laden ’ne Taschenlampe hingestellt haben – und ich wußte nicht, was die meinen.« Als die Hauptangeklagte Beate Zschäpe erschienen sei, hätten sie »pscht!« gesagt. Sie sollte demnach nicht hören, was sie ihm erzählten. Das kann bedeuten, daß sie zu diesem Zeitpunkt nicht eingeweiht war – oder auch, daß sie alles wußte und nur nicht wollte, daß ihre Komplizen ihm gegenüber mit der »Taschenlampe« prahlten.

Später am Abend habe er gedacht, »daß die da Sprengstoff eingebaut haben oder so was«, sagte S. vor Gericht. Das habe er sich dann aber »nicht vorstellen« können. »Da war nicht mehr, die haben nicht gesagt bei Türken«, betont er. »Das habe ich aber für mich behalten, das habe ich niemandem gesagt.«

In Nürnberg wurde im September 2000 Enver Simsek mit einer »Ceska 83« erschossen. Die Einlassung von S. wirft die Frage auf, ob der Blumenhändler schon rund ein halbes Jahr vorher als Opfer ausgewählt wurde, oder ob ein bislang unbekannter NSU-Anschlag mit einer anderen Waffe oder Sprengstoff gemeint war. »Es gab wahrscheinlich einen versuchten Anschlag«, sagte S. auf Nachfrage des Richters. Präsent sei ihm das erst wieder seit Ende 2011 oder Anfang 2012 – als nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt die Mordserie wieder in den Medien war.

Nach eigener Aussage erfuhr S. aber schon deutlich früher, daß die »beiden Uwes« grundsätzlich bereit waren, auf Menschen zu schießen. Ralf Wohlleben habe ihm gegenüber nach einem Telefonat lachend erwähnt, daß die Untergetauchten »jemanden angeschossen« hätten, sagte S. am Dienstag vor Gericht. Er selbst habe gedacht »Hoffentlich nicht mit der Waffe – und sei davon ausgegangen, daß das Opfer ein Wachmann gewesen sei.

Bei einem der bisher bekannten Banküberfälle sollen Böhnhardt und Mundlos im Jahr 2006 einen Auszubildenden durch einen Bauchschuß verletzt haben. Zu diesem Zeitpunkt will S. nach früheren Aussagen schon längst aus der rechten Szene ausgestiegen sein – und demnach auch keinen Kontakt mehr zu Wohlleben gehabt haben.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. Juni 2013


Entlastung für Zschäpe?

Neue Ungereimtheiten beim NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München

Von René Heilig **


Möglicherweise haben die NSU-Terroristen bereits 1999 versucht, einen Sprengstoffanschlag in Nürnberg zu verüben. Das jedenfalls ist den gestrigen Aussagen eines Angeklagten zu entnehmen. Zugleich entlastete der jedoch die Hauptangeklagte.

Es ist so eine Sache mit dem Angeklagten Carsten Schultze vergangene Woche erinnerte er sich nur mäßig bis gar nicht, gestern jedoch machte er glauben, dass die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe vermutlich viel weniger von den Verbrechen der NSU-Bande gewusst hat, als die Anklage behauptet. Als Schultze sich auf Weisung des heutigen Mitangeklagten Ralf Wohlleben mit den abgetauchten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Chemnitz traf, um ihnen die spätere Mordwaffe zu übergeben, hätten die beiden Uwes berichtet, dass sie eine »Taschenlampe« in ein Nürnberger Geschäft gestellt hätten. Zschäpe sei zu der Runde hinzugekommen, und einer der beiden hätten gesagt: »Pssst, damit sie es nicht mitbekommt.« Die Bundesanwaltschaft legt Zschäpe Mittäterschaft bei allen Verbrechen der Neonazi-Terrorgruppe zur Last, darunter zehn Morde. Schultze betonte, er habe nicht gewusst, was mit der Taschenlampe gemeint war, später jedoch befürchtet, dass die Uwes über eine Bombe gesprochen haben könnten. Von einem solchen Anschlagsversuch ist bislang nichts bekannt. Bislang ging man davon aus, dass der NSU seinen ersten Bombenanschlag 2001 in Köln verübte.

Das Gespräch zwischen den drei untergetauchten Neonazis und Schultze soll Ende 1999 oder Anfang 2000 im Café der Galeria Kaufhof in Chemnitz stattgefunden haben. Die Aussage bietet Grund zu neuen Recherchen, denn das damals angeblich modernste Warenhaus Europas, die Galeria Kaufhof in Chemnitz, wurde erst im Oktober 2001 eröffnet.

Während man die Beschreibung des Waffenboten quasi als für Zschäpe entlastend werten könnte, hat der angeklagte frühere NPD-Funktionär Wohlleben ein zusätzliches Problem. Schultze erzählte, der habe nach einem Telefongespräch mit den Uwes gelacht und gesagt, die Kameraden hätten einen Menschen angeschossen. Wohlleben sei, so erzählte Schultze, bei einem Überfall auf zwei junge Männer in Jena dabei gewesen und habe ihm gesagt, dass er dem einen ins Gesicht gesprungen sei. Das könnte man als Mordversuch werten, der verjährt nicht. Doch auch Schultze hatte in der vergangenen Woche zugegeben, mitgetan zu haben, als zwei junge Leute krankenhausreif geprügelt wurden.

Gleichfalls gestern kam heraus, dass die Bundesanwaltschaft im NSU-Ermittlungsverfahren weit mehr Personen auf Verbindungen zur Terrorzelle überprüfte, als bislang bekannt war. In einer aktualisierten Liste würden 500 Personen aufgeführt, »die im Ermittlungsverfahren abgeklärt wurden«, sagte Oberstaatsanwältin Anette Greger vor Beginn des gestrigen achten Verhandlungstages.

Bislang war stets nur von einer 129er und einer 300er Liste die Rede. Auf ihr stehen neben den toten NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt alle fünf Angeklagten, weitere Beschuldigte sowie mögliche Kontaktpersonen. Bundesanwalt Herbert Diemer relativierte die Angaben seiner Kollegin. Es handele sich bei den neuen Akten um sogenannte Spurenakten, die für das Verfahren »null Bedeutung« hätten. Der Chefankläger versicherte: »Wir haben nichts zu verheimlichen.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 12. Juni 2013


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