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Alle Anschläge im Blick

NSU-Prozeß: Nagelbombenattentat in Köln wird nicht abgetrennt. Facebook nimmt rechte Fanseite für Terrorgruppe vom Netz

Von Claudia Wangerin, München *

Der Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße, bei dem vor neun Jahren 22 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden, bleibt Teil des Münchner NSU-Prozesses. »Der Senat beabsichtigt derzeit nicht, eine Abtrennung des Komplexes Keupstraße vorzunehmen«, erklärte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl am Donnerstag im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München. Zahlreiche Nebenklagevertreter hatten sich am Mittwoch gegen den Vorschlag ausgesprochen, den Terroranschlag getrennt von der Mordserie, den Raubüberfällen und einem weiteren Sprengstoffattentat des »Nationalsozialistischen Untergrunds« zu verhandeln. Die Anwälte der Verletzten aus der Keupstraße hatten eine Verzögerung der juristischen Aufarbeitung um Jahre befürchtet, wenn nicht gar eine Einstellung, sofern die Angeklagten wegen anderer Taten zu hohen Strafen verurteilt würden. Götzl hatte die Aufspaltung des Prozesses vorgeschlagen, nachdem die Anwälte der mutmaßlichen Neonaziterroristin Beate Zschäpe die Verlegung der Hauptverhandlung in einen größeren Saal gefordert hatten. Dabei verwiesen sie auch auf die hohe Zahl der Betroffenen des Kölner Anschlags: Es könnten noch Nebenkläger hinzukommen.

Die Angeklagten Carsten Schultze und Holger Gerlach bestätigten am Donnerstag ihre Aussagebereitschaft zur Sache. Beide stehen als mutmaßliche Terrorhelfer vor Gericht, wollen sich aber schon vor Jahren von der Szene abgewendet haben. ­Schultze will im Prozeß auch Fragen der Nebenkläger beantworten, Gerlachs Verteidiger ließen am Ende des vierten Verhandlungstermins offen, ob ihr Mandant dies tun werde. Nicole Schneiders, Anwältin des wegen Beihilfe zum Mord angeklagten Neonazis Ralf Wohlleben, bemängelte anläßlich der bevorstehenden Aussagen die Sitzordnung im Gerichtssaal. Ihr Mandant und sie könnten die Mimik der Aussagewilligen nicht beobachten, wenn sie gleichzeitig mitschrieben, da sie mit dem Rücken zu ihnen säßen. Während sich Schneiders und Wohlleben aus früheren Tagen im Jenaer Kreisvorstand der NPD kennen, befinden sich Schultze und Gerlach in einem Zeugenschutzprogramm. Beide haben in polizeilichen Vernehmungen Wohlleben schwer belastet. Schneiders kündigte am Donnerstag an, ihr Mandant werde vorerst schweigen, die Verteidiger würden eine Erklärung abgeben. Auch Zschäpe und André Eminger wollen nicht aussagen.

Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl, Wolfgang Heer und Anja Sturm sind unterdessen mit mehreren Anträgen gescheitert: Wem wann das Wort erteilt wird, bestimmt situationsbedingt der Vorsitzende Richter; ein Tonprotokoll der Hauptverhandlung wird es nicht geben. Weitere Anträge sind noch offen. Der Streit um die erleichterte Akteneinsicht in Protokolle der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse ging weiter. Mehrere Nebenklagevertreter äußerten Verständnis für das Anliegen der Verteidigung.

Derweil hat das Internetportal Face­book am Donnerstag nachmittag auf jW-Anfrage eine NSU-Fanpage vom Netz genommen. Auf der Seite »Paulchen Panther – NSU is watching you« wurden seit Wochen die Morde der rechten Terrorgruppe glorifiziert, der Holocaust geleugnet und der Prozeß in München ins Lächerliche gezogen. »Einen National-Sozialistischen Untergrund (NSU) hat es nie gegegben (sic!). Diese sogenannte Terrorzelle ist reine Fiktion«, hieß es gleich eingangs. Gegenüber junge Welt erklärte ein Sprecher des sozialen Netzwerkes: »Wir tolerieren keine haßerfüllten Inhalte auf Facebook.« Man arbeite »intensiv daran, Seiten und Gruppen mit Nazi-Inhalten zu entfernen, und wir bestärken Nutzer, uns sofort zu informieren, wenn sie auf solche Inhalte stoßen«.

* Aus: junge Welt, Freitag, 17. Mai 2013


Schrecken ohne Ende

NSU-Ausschuß zieht Bilanz

Von Sebastian Carlens **


Ein paar Rekorde dürfte er eingefahren haben, der Bundestagsausschuß zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU). Den höchsten Aktenberg eines Untersuchungsgremiums zum Beispiel: Über 9000 Leitz-Ordner. Oder die längste Zeugenbefragung: 14 Stunden. Und natürlich die umfassendste kollektive Amnesie, die die deutsche Hauptstadt je erleben mußte: Nie zuvor haben sich, in insgesamt 40 Befragungen, so viele Beamte an so wenig erinnern können. Die elf Obleute sollten die Elite der deutschen Sicherheitsorgane kennenlernen: Staatssekretäre, Minister, Fahnder, Profiler. Bei etlichen reichte die Erinnerung kaum über den eigenen Namen hinaus.

Am Donnerstag sprach Sebastian Edathy (SPD), der Vorsitzende des Gremiums, von einem »multiplen« und »historisch beispiellosen« Versagen der Behörden. Anderthalb Jahre nach Ende des NSU, nach zehn Morden und 22 Schwerverletzten, ist nichts aufgeklärt. Eine Handvoll Verfassungsschutzchefs, die nicht mehr zu halten waren, gingen in Frühpension, ein Referatsleiter, der den Reißwolf angeschmissen und relevante Akten vernichtet hatte, wurde versetzt. Warum es drei damals jugendlichen Provinzneonazis gelungen sein soll, die Crème de la Crème der deutschen Ermittlungsbehörden 13 Jahre lang am Nasenring durch die Manege zu führen – darauf gibt es noch immer keine Antwort.

Den Obleuten ist das nicht vorzuwerfen. Ein Platz in diesem Ausschuß taugte schließlich kaum zur Profilierung. Alle Parteien, die Linke einmal ausgenommen, hatten zu verlieren, denn egal, welche Koalition am Ruder war, die Gefahr von rechts nahm niemand ernst genug, die Dienste brachte keiner zur Räson. Auch am Willen der verantwortlichen Abgeordneten, die Terrorserie aufzuklären, besteht kein Zweifel; ebensowenig am Entsetzen, das manchen Demokraten packte, der der Selbstentleibung der Behörden in den oft quälend unergiebigen Befragungen beiwohnen durfte. Ihre Erschütterung war echt.

Doch das von den Medien rasch zum »NSU-Ausschuß« zurechtgestutzte Organ hatte eigentlich noch einen weitergehenden Auftrag: Es sollte mögliche Verstrickungen der Behörden in den braunen Sumpf untersuchen. Daran mußte es scheitern. Der Konsens aller im Gremium vertretenen Parteien, die Architektur des deutschen Staatsapparates nicht prinzipiell zur Diskussion zu stellen, verhinderte von vornherein, daß mehr als Fassungslosigkeit und Entsetzen übrig bleiben. Die Dienste, die sich nun selbst reformieren sollen, sind nicht zu kontrollieren. Das wahre Verdienst des Ausschusses ist es, etliche Illusionen über den Charakter des Staates, in dem wir leben, zerstört zu haben. Das selbstherrliche Auftreten der deutschen Behördenspitzen hat bewiesen, wem sich diese Leute zumindest nicht zur Rechenschaft verpflichtet fühlen: Dem gewählten Parlament.

** Aus: junge Welt, Freitag, 17. Mai 2013


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