Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tausend Ordner und noch mehr Fragen

Münchner Gericht bereitet Prozess gegen rechtsextremistische NSU-Bande vor

Von René Heilig *

Voraussichtlich ab April soll vor dem Oberlandesgericht München gegen die mutmaßliche Neonazi-Terroristin Beate Zschäpe sowie vier mutmaßliche Unterstützer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) verhandelt werden. Es gibt zu viele offene Fragen in der Anklage und zu wenig Platz im Verhandlungssaal.

Der Vorsitzender des Staatsschutzsenats heißt Manfred Götzl, er ist 60 Jahre alt. Streng, aber gerecht, so sagen Juristenkollegen. Über einige Prozesse, die Götzl geführt hat, wurde auf Titelseiten berichtet. So verurteilte er 2005 den Mörder des Münchner Modezaren Rudolph Moshammer zu lebenslanger Haft. 2009 erfuhr der einstige Wehrmachtsoffizier und Geiselmörder Josef Scheungraber sein »Lebenslänglich« von Götzl.

Demnächst werden Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Schultze vor ihm sitzen, weil sie dem Nationalsozialistischen Untergrund angehörten oder als Helfer fungierten. Zehn Morde, ausgeübt aus - wie es in der Anklage des Generalbundesanwaltes heißt - »heimtückischen und aus niedrigen Beweggründen«, stehen zur Debatte. Dazu Bombenexplosionen und Banküberfälle.

Die mit dem Fall befassten Juristen haben gewiss arbeitsreiche Festtage gehabt, denn sie müssen den Inhalt von rund 1000 Ordnern erfassen. Das hätten die Mitglieder des Bundestagsuntersuchungsausschusses auch gern getan. Doch sie bekommen nicht einmal die 488-seitige VS-gestempelte Anklage. Das könnte Richter Götzl ändern - schon, damit die immer wieder als verbesserungswürdig befundene Zusammenarbeit zwischen Ausschuss, Ermittlern und Behörden tatsächlich besser wird.

Bis zum 7. Januar haben die Verteidiger Zeit, sich zu den Vorwürfen gegen ihre Mandaten zu erklären. Danach muss das Gericht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden.

Verhandelt wird im fensterlosen Saal 101 des Justizzentrums Nymphenburger Straße. Man kennt ihn weltweit, hier wurde gegen den Nazimörder Iwan Demjanjuk befunden. Regulär gibt es 136 Zuschauerplätze. Zu wenig, denn beim NSU-Prozess werden bereits über 100 Prozessbeteiligte erwartet. 57 Nebenkläger wollen teilnehmen. Ihnen stehen rund 40 Anwälte zur Seite. Die Angeklagten bringen zehn Anwälte mit. Das Medieninteresse wird zumindest bei der Eröffnung der Verhandlung sowie bei manchen Zeugenvernehmungen gewaltig sein.

Die »Bums« und der zweite Mann

14 Monate sind seit dem zufälligen Auffliegen der rechtsextremistischen Terrorzelle namens NSU vergangen. 14 Monate Zeit für Aufklärung. Doch deren Ergebnisse sind extrem dürftig.

Ein Beispiel aus Brandenburg. Dort hielt sich der Verfassungsschutz ab 1994 Carsten Szczepanski als V-Mann »Piatto«. Er zählte damals zu den gefährlichsten neonazistischen Gewalttätern in Deutschland, doch angeblich war er unverzichtbar, denn als Quelle »eine herausragende, besonders wertvolle. Sie berichtete zuverlässig und umfassend«, heißt es noch Mitte 2012 in einem internen Papier des Potsdamer Innenministeriums. »Piatto« gab Hinweise zum Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in Dolgenbrodt, informierte aus der Nazi-Fußball-Szene, lieferte Details aus der Kameradschaft Oberhavel. Er war bekannt mit britischen Blood&Honour-Gangstern und ihrem militanten Arm »Combat 18«, in der KKK-Sympathisanten aktiv waren.

Szczepanski hatte sich selbst als Spitzel angeboten. Der Grund? Dem Nazi stand ein Prozess ins Haus, weil er mit anderen 1992 den nigerianischen Asylsuchenden Steve Erenhi fast ermordet hat. 1995 wurde der V-Mann zu acht Jahren Haft verurteilt.

Seine Gönner vom Verfassungsschutz besorgten dem gefangenen Spitzel eine Telefonerlaubnis, gaben ihm ein Handy, zugelassen auf das Innenministerium. Ab April 1996 traf man sich dann auch außerhalb des Knastes. Der Geheimdienst fuhr den Insassen sogar zu diversen Nazitreffs und anschließend wieder »heim«. Doch das war mühsam, also erließ man ihm alsbald die Reststrafe zur Bewährung. Was der Delinquent aber nur dazu nutzte, mit Waffen zu dealen.

»Die Quelle gab als bundesweit einzige Informationsquelle weiterführende Hinweise auf den Verbleib dreier flüchtiger Neonazis aus Thüringen«, vermerkt das Potsdamer Innenministerium. Es handelt sich um die drei NSU-Mordgesellen und bislang ging man auch davon aus, dass die Information über die Waffenbeschaffung für das NSU-Trio durch den sächsischen Blood&Honour-Chef Jan Werner von Szczepanski kam. Der Potsdamer Geheimdienst notierte, dass das Trio noch »einen weiteren Überfall« plane, »um mit dem Geld sofort Deutschland zu verlassen« - und sperrte diese Quelleninformation für die Polizei.

Jan Werner hatte am 25. August 1998 um 19.21 Uhr leichtsinnig eine SMS verschickte: »Hallo, was ist mit den Bums«. Empfänger war ein Handy des Brandenburger Innenministeriums, das zu dieser Zeit in Chemnitz, dem Unterschlupfort des NSU-Trios, sendet. Doch es war nicht das von »Piatto«, sagen die Geheimdienstler: »Ausgeschlossen werden kann allerdings, dass die Quelle ›Piatto‹ sich am 25. August 1998 gegen 19.21 Uhr mit seinem Handy in Chemnitz befand. Zum fraglichen Zeitpunkt wurde ein Treff der Quelle mit seinem Quellenführer im Raum Brandenburg an der Havel und Potsdam durchgeführt, anschließend wurde er zurück in die JVA Brandenburg an der Havel gebracht.«

Mit wem also hat Werner über die »Bums« verhandelt? Mit einem weiteren Brandenburger V-Mann oder direkt mit einem Mitarbeiter des Geheimdienstes? Fragen, die sich vermutlich auch der Bundestagsuntersuchungsausschuss stellen wird. Dann wird Brandenburg mehr vorlegen müssen als geschwärzte Akten.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 02. Januar 2013


Zurück zur Seite "Rassismus, Neonazismus, Antifaschismus"

Zurück zur Homepage