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Gegen das Schweigen

Zum Jahrestag der Nazimorde rufen linke Gruppen zu Protesten auf

Von Ines Wallrodt *

Das »Bündnis gegen das Schweigen« will am 4. November gegen gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus protestieren. In 30 Städten sind Demonstrationen, Kundgebungen und Infoveranstaltungen geplant.

Der Zusammenschluss hat sich den sprechenden Namen »Bündnis gegen das Schweigen« gegeben. Er prangert das Mauern von verantwortlichen Politikern und Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung der Neonazimordserie genauso an wie das Stummbleiben der Bevölkerung. »Ein Aufschrei in der Gesellschaft ist ausgeblieben«, kritisiert Bündnissprecher Michael Gräfe gegenüber »nd«. In den zwölf Monaten seit Bekanntwerden des Terrortrios habe sich kaum etwas verändert.

Das Bündnis will reden. Reden über Strukturen, die diese Mordserie ermöglichten und seine Aufklärung verhinderten. Reden über Rassismus, die Vorurteile in den Köpfen von Polizeibeamten und Gesellschaft, die bei getöteten Türken die Schuldigen unter Migranten suchen. »Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse sind wichtig«, sagt Gräfe. »Eine Auseinandersetzung über die Ursachen für das Versagen leisten sie jedoch nicht.« Mit Erklärungen wie »Pannenserie« und »Kommunikationsprobleme« ist das Bündnis jedenfalls nicht zufrieden.

Die Rechtsextremismusinitiativen, Antifagruppen, Parteien und Migrantenverbänden, die das Bündnis tragen, fordern eine tiefgreifende Diskussion ein, wie es möglich sein konnte, dass Neonazis in Deutschland 13 Jahre lag unentdeckt morden konnten. Sie erwarten deutliche Konsequenzen. Bislang habe es nur »Schnellschüsse« wie die Rechtsextremismusdatei gegeben, moniert Gräfe. Stattdessen müsse die Teilhabe von Migranten verbessert werden. »Die Ausgrenzung muss aufhören.« Nur so könnte man Denkstrukturen ändern. Zahlreiche Protestaktionen am Wochenende sollen diesen Forderungen Nachdruck verleihen.

In rund 30 Städten sind unter dem Motto »Das Problem heißt Rassismus - Schluss mit der Vertuschung« Demonstrationen geplant, unter anderem in Jena, der Heimatstadt des NSU-Trios, in Rostock und Nürnberg, wo die Neonazis insgesamt vier Menschen hinrichteten. Die größten Demonstrationen werden in Berlin, Hamburg und - in einer Woche - in Köln erwartet. Sie führen zu den Institutionen, die bei der Aufklärung der Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) versagt haben oder mit Verantwortung tragen - Bundeskriminalamt, Verfassungsschutzämter, Innenministerien.

Auch Migrantenorganisationen sind an der Vorbereitung der Protestaktionen beteiligt. In Berlin etwa die Flüchtlingskarawane, der Migrationsrat oder der linke türkische Verein »Allmende«. Angesichts der undurchsichtigen Verflechtung staatlicher Organe mit der deutschen Neonaziszene fühlen sich Mitglieder dieses Vereins an »außerlegale Handlungen« in der Türkei erinnert.

»Die Täter wurden gedeckt und gefördert«, formuliert Deniz Yilmaz scharf. Er ist Mitglied bei Allmende und zugleich Sprecher des Berliner »Bündnisses gegen Rassismus«, das die Demonstration in der Hauptstadt initiiert hat. Yilmaz meint damit nicht nur die direkte Bezahlung von Neonazi-V-Leuten, sondern auch verbale Angriffe von Politikern wie Thilo Sarrazin, die ein breites Publikum in der Bundesrepublik finden. »Die Mörder können sich dadurch legitimiert fühlen.« Yilmaz ist im Grunde pessimistisch. Er fürchtet, dass viele Fragen nie geklärt und irgendwann einfach ad acta gelegt werden. Trotzdem hofft er für das Wochenende auf eine große Beteiligung an den Demonstrationen. Sie könnten dazu beitragen, dass sich seine Befürchtung nicht bestätigt.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 02. November 2012


"Migranten haben Vertrauen in den Staat verloren"

Antifaschisten wollen ein Jahr nach den Enthüllungen über die NSU-Mordserie bundesweit auf die Straße gehen. Gespräch mit Deniz Yilmaz *

Am Sonntag finden bundesweit Aktionen statt, um der Forderung nach Aufklärung der mutmaßlich von der neofaschistischen Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) verübten Morde und Anschläge Nachdruck zu verleihen. Was genau ist in Berlin geplant?


Das Bündnis gegen Rassismus organisiert eine Demonstration, mit der unter anderem an das Bekanntwerden der NSU-Mordserie vor einem Jahr erinnert werden soll. Die Demonstration soll um 14 Uhr beim Protestcamp der Flüchtlinge am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg starten und endet mit einer Kundgebung vor dem sogenannten Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Treptow.

Gebetsmühlenartig wird von Politikern behauptet, sie würden alles tun, um die Aufklärung der NSU-Morde zu befördern. Welchen Eindruck haben Sie?

Wir befürchten, es ist unmöglich, daß Politiker eine vollständige Aufklärung betreiben werden. Auch nicht mit den Untersuchungsausschüssen. Schon im Auftrag dieser Ausschüsse wird das Thema Rassismus völlig ausgeblendet.

Außerdem wird die Vertuschung und die schon begonnene Aktenvernichtung durch gewisse Behörden weiter gepflegt und durch verschiedene Verantwortliche legitimiert. Politik, Medien und Institution fördern weiterhin den Nährboden für rassistische Haltungen und Handlungen. Es gibt leider keinen Diskurs, der die Sicherheits- und Kontrollapparate, die die mörderische Nazibande ihre Verbrechen ausüben ließen und die Opfer und ihr Umfeld kriminalisierten, ernsthaft in Frage stellt. Der Fall wird voraussichtlich so ad acta gelegt, daß höchstens ein paar Personen aus dem Täterkreis geringfügige Strafen bekommen und ein paar Beamte in Sicherheitsbehörden abgesetzt werden. Die Migranten haben berechtigterweise das Vertrauen in den Staat verloren.

Was werfen Sie Polizei und Inlandsgeheimdiensten konkret vor?

Polizei und Geheimdienste handelten eindeutig nach rassistischen Bildern. Die Ermittlungen hatten die Kriminalisierung der Opfer und ihres Umfeldes im Fokus. Diese wurden mit kriminellen und gewalttätigen Machenschaften und Strukturen in Verbindung gebracht. Mit Begriffen wie »Dönermorde« und Bezeichnungen wie Ermittlungskommission »Bosporus« wurden die Opfer und ihre Angehörigen degradiert und ethnisch und geographisch außerhalb von Deutschland verortet. Ermittlungen im Zusammenhang mit »Rechtsextremismus« und Rassismus wurden ganz ausgeblendet. Hinweise in Richtung Naziszene wurden ignoriert.

Eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag aus dem Jahr 2007 wurde ebenfalls mit Gleichgültigkeit abgewiesen. Es gäbe keine Hinweise auf eine rechtsextreme Täterschaft, hieß es damals. Nun, Jahre später, erfahren wir, wie der Verfassungsschutz die Mörderbande gedeckt und gefördert hat. So wurden die NSU-Terroristen mit Pässen und Bomben versorgt, V-Männer haben die Szene aktiv unterstützt, bei einer Mordtat war gar ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes anwesend. Dutzende Akten wurden noch nach den ersten Enthüllungen am 4. November des letzten Jahres geschreddert.

Seitens antifaschistischer Organisationen herrscht bezüglich der NSU-Enthüllungen noch heute pikiertes Schweigen ...

Der eigentlich Skandal, der relativ schnell – zumindest in groben Zügen – klar wurde, ist, daß der Staat eine Mitverantwortung trägt. Dies löste jedoch keinen großen Aufschrei aus, weil es hierzulande vielen Menschen schwerfällt, die Verantwortung des Staates einzugestehen.

Ein anderes Problem liegt darin, daß die Dimension der Vorfälle nicht richtig erfaßt wird, weil selbst Antifaschisten die gewalttätigen Nazis als das Hauptübel des Verbrechens betrachten, während die Rolle des kontinuierlich forcierten Rassismus durch Politik, Institutionen und Medien kaum erkannt wird. Daher wollen wir mit unserer Demonstration am Sonntag einerseits die Verbandelung des Staates mit den Tätern und andererseits den verbindenden Hintergrund Rassismus thematisieren.

Interview: Markus Bernhardt

** Deniz Yilmaz ist Sprecher des Berliner »Bündnis gegen Rassismus«

Aus: junge Welt, Freitag, 02. November 2012


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