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Schlag gegen Neonazis

NRW-Polizei geht mit mehreren Hundertschaften gegen rechte »Kameradschaften« vor. Innenminister verbietet drei gewaltbereite Organisationen

Von Lenny Reimann *

Die nordrhein-westfälische Polizei ist am Donnerstag morgen mit mehr als 900 Beamten erstmals gegen die militante Rechte vorgegangen. Insgesamt 120 Wohnungen und Vereinsräume gewaltbereiter Neonazis in ganz NRW wurden in den Morgenstunden von Beamten des Landeskriminalamtes und der Polizei durchsucht, alleine 93 davon in Dortmund. Selbst vor aktuell inhaftierten Kadern der sogenannten Autonomen Nationalisten machten die Beamten keinen Halt und durchsuchten deren Zellen und private Habseligkeiten.

Zeitgleich zur Großrazzia verbot Innenminister Ralf Jäger (SPD) mit dem »Nationalen Widerstand Dortmund«, der »Kameradschaft Aachener Land« und der »Kameradschaft Hamm« die umtriebigsten Neonaziorganisationen in NRW. Sie hatten in der Vergangenheit vor allem durch fortwährende Anschläge und Attacken gegen Antifaschisten und Migranten von sich reden gemacht.

Bei der Durchsuchung stellten die Polizisten diverse Waffen, Sturmhauben und Unmengen an Propagandamaterial sicher und beschlagnahmten etwa im »Nationalen Zentrum« des »Nationalen Widerstandes« in Dortmund-Dorstfeld den kompletten Inhalt des Ladenlokales. Dabei fanden die Beamten unter anderem auch 1000 Plakate der neofaschistischen NPD.

Mit dem Verbot der als äußerst gewalttätig geltenden Organisationen war seitens des Innenministers auch die Rechtsgrundlage dafür geschaffen worden, sämtliches Vermögen der »Kameradschaftsgruppen« zu beschlagnahmen. Zugleich ist ab sofort auch das Tragen von Symbolen besagter drei Nazigruppen untersagt.

Unklar war bis jW-Redaktionsschluß, ob das Verbot des »Nationalen Widerstandes« in Dortmund auch Auswirkungen auf den von den Neonazis mittlerweile dort traditionell ausgerufenen »Nationalen Antikriegstag« hat, zu dem die Neofaschisten für den 1. September bundesweit mobilisieren (jW berichtete). Informationen Dortmunder Antifaschisten zufolge, soll dieser Großaufmarsch vom Anführer der nunmehr verbotenen Dortmunder »Kameradschaft«, Dennis Giemsch, angemeldet worden sein.

Lokale antifaschistische Initiativen und Politikerinnen der Linkspartei begrüßten am Donnerstag das Vorgehen der Polizei. Ula Richter vom »Bündnis Dortmund gegen rechts« forderte Innenminister Jäger auf, nun »endlich Nägel mit Köpfen zu machen« und auch die als besonders gewaltbereit geltende »Skinheadfront Dorstfeld« zu verbieten.

Anna Conrads, ehemalige Landtagsabgeordnete und innenpolitische Sprecherin der Linken, wies im Gespräch mit jW darauf hin, daß »man Jäger zum Jagen tragen« müsse und bedauerte, daß die »SPD offenbar erst aufgrund der öffentlichen Empörung über die Verstrickungen von Geheimdiensten in den rechten Terror des ›Nationalsozialistischen Untergrundes‹ (NSU) zum Handeln bereit gewesen« sei.

Ähnlich äußerte sich Ulla Jelpke, Dortmunder Bundestagsabgeordnte der Linkspartei. »Das Verbot des für unzählige Gewalttaten einschließlich mehrerer Anschläge auf Parteibüros und alternative Kneipen verantwortlichen ›Nationalen Widerstands Dortmund‹ straft all diejenigen in der Dortmunder Polizei und Stadtverwaltung Lügen, die beharrlich ein Naziproblem in dieser Stadt bestritten hatten«, konstatierte sie am Donnerstag gegenüber junge Welt.

* Aus: junge Welt, Freitag, 24. August 2012


Tödliche Verspätung

NRW geht gegen Neonazis vor

Von Lenny Reimann **


Mit dem am Donnerstag erlassenen Verbot der drei umtriebigsten und gewaltbereitesten neofaschistischen »Kameradschaften« in Nordrhein-Westfalen ist Landesinnenminister Ralf Jäger (SPD) endlich der Forderung verschiedener Antifaschisten gefolgt. Das Vorgehen der Behörden kommt jedoch mit reichlich Verspätung. Nahezu ungestört von etablierter Politik und der Polizei konnten die militanten Rechten in den Jahren zuvor – vor allem in den Neonazihochburgen Dortmund und Aachen – kontinuierlich Anschläge auf Privatwohnungen ihrer Gegner, Parteibüros von DKP, Linke und Grünen sowie alternative Treffpunkte und Kneipen verüben. Vor allem die Dortmunder Polizei – und hier allen voran ihr ehemaliger Präsident Hans Schulze (SPD) – hatten die Neofaschisten so lange gewähren lassen, bis diese das öffentliche Bild in ihrem Stadtteil dominierten und mehrere gegen den rechten Straßenterror aktive Familien so lange bedrohten, bis diese sich zum Verlassen gezwungen sahen. Bis heute haben die Betroffenen der rechten Gewalt Polizei und Stadtspitze außer warmer Worte und Mitleidsbekundungen keine konkrete Hilfe entlocken können.

Und schlimmer noch: Wären die zuständigen Behörden von vornherein offensiv gegen die militanten »Autonomen Nationalisten« vorgegangen, die Anfang der 2000er Jahre aus dem Dunstkreis der »Kamradschaft Dortmund«, deren Hauptaktivist der unter dem Namen »SS-Siggi« bundesweit berüchtigte Siegfried Borchardt war, hervorgingen, hätten vielleicht sogar die von den Neonazis in der Stadt verübten Morde verhindert werden können.

Zur Erinnerung: Im Jahr 2000 erschoß der Dortmunder Neonazi Michael Berger drei Polizeibeamte und richtete sich danach selbst. Es folgte 2005 die Ermordung des Punks Thomas Schulz, genannt »Schmuddel«, durch das Mitglied der »Skinheadfront Dortmund-Dorstfeld«, Sven Kahlin. Dieser wurde – ausgestattet mit einer positiven Sozialprognose – vorzeitig aus der Haft entlassen. Er ist derzeit wegen neuerlicher Gewalttaten gegen Migranten inhaftiert. Im Jahr 2006 wurde der Dortmunder Kiosbesitzer Mehmet Kubasik mutmaßlich von den Terroristen des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) erschossen. Im gleichen Jahr soll die örtliche Polizei Hinweise auf den neofaschistischen Hintergrund der Mordserie gehabt haben, die die Kripo jedoch nicht an die zentrale Ermittlungseinheit weitergegeben haben soll. Noch im vergangenen Jahr bezeichnete die Dortmunder Polizei friedliche Massenblockaden gegen den von Neofaschisten organisierten »Nationalen Antikriegstag« auf eigens im Stadtgebiet angemieteten Großflächenplakaten als Straftaten.

Das gestrige Vorgehen gegen den rechten Alltagsterror ist vor diesen Hintergründen zwar zu begrüßen, jedoch keineswegs geeignet, über den Kuschelkurs hinwegzutäuschen, den die Behörden gegenüber den braunen Mörderbanden bisher an den Tag legten. Für die Mordopfer kommt es entschieden zu spät.

** Aus: junge Welt, Freitag, 24. August 2012 (Kommentar)


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