Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Noch mehr Nazimorde

Bundeskriminalamt sieht bei Hunderten Schwerverbrechen mögliche rechtsextreme Täterschaft. Fälle werden neu aufgerollt

Von Ulla Jelpke *

Neonazis haben in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit weit mehr Morde und andere schwere Gewalttaten begangen, als bisher offiziell zugegeben wurde. Das ist jetzt zumindest auch halbamtlich. Das Bundeskriminalamt (BKA) und die Sicherheitsbehörden der Bundesländer halten in 746 Fällen von versuchten bzw. vollzogenen Tötungsdelikten, die in der Vergangenheit als »unpolitisch« eingestuft wurden, eine Neueinschätzung für angezeigt, weil Anhaltspunkte »für eine mögliche politische rechte Tatmotivation« vorliegen. Das berichtete am Mittwoch die Neue Osnabrücker Zeitung. Amtliche Ergebnisse sollen aber frühestens in einem halben Jahr vorliegen.

Einen Streit um die Zuverlässigkeit der amtlichen Statistiken hat es immer schon gegeben. Die Bundesregierung geht bis heute davon aus, daß seit 1990 rund 60 Menschen Opfer von faschistischen Mordanschlägen geworden sind. Diese Zahl wird von Opferberatungen, aber auch von bürgerlichen Medien wie dem Tagesspiegel oder der Zeit bestritten. Diese kommen vielmehr auf mindestens 152 Tote. Gerichte und Staatsanwaltschaften hingegen neigen immer wieder dazu, Straftaten selbst dann als unpolitisch einzuschätzen, wenn sie von bekannten Neonazis an ihren typischen Feindbildern begangen werden – an Obdachlosen, Menschen mit anderer Hautfarbe, Homosexuellen oder Linken. Ein Beispiel unter vielen: Am 1. August 2008 wurde ein Obdachloser im sachsen-anhaltischen Dessau von zwei alkoholisierten Rechtsextremisten mit einem Müllcontainer erschlagen. Auf ihren Handys hatten die Täter Hakenkreuze und die Parole »Juden sind unser Unglück«. Laut einem Zeugen hat einer der beiden das Opfer einen »Unterbemittelten« genannt, der es »nicht anders verdient« habe. Trotzdem fehlt diese Tat in der offiziellen Statistik rechter Gewalt.

Anstoß für die Neuuntersuchung war das Auffliegen der NSU-Mordserie vor rund zwei Jahren. Damals kam heraus, daß die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« über mehrere Jahre hinweg mindestens neun Menschen ermordet hatte. Die Sicherheitsbehörden gerieten unter Druck, weil sie sich als entweder unfähig oder gar unwillig erwiesen hatten, rechtsextreme Hintergründe bei schweren Gewaltdelikten zu erkennen. Um den Vorwurf abzuschütteln, hatte die Bundesregierung damals angekündigt, die strittigen Fälle noch einmal zu überprüfen. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hatte gesagt, man werde »den einen oder anderen Fall neu bewerten müssen«.

3300 Tötungen sowie Tötungsversuche im Zeitraum von 1990 bis 2011 wurden in die Überprüfung einbezogen, bestätigte ein Sprecher des Innenministeriums. Zur Auswahl der Fälle habe das BKA einen »Indikatorenkatalog« entwickelt, über dessen Details bis gestern noch keine Angaben vorlagen. Jedenfalls hätten sich bei 746 Taten Anhaltspunkte ergeben, daß ihnen – anders als bislang eingeschätzt – doch eine rechtsextreme Motivation zugrunde liegt. Die Gesamtzahl der Opfer in diesen Fällen wurde mit 849 angegeben. Die Fälle werden derzeit im BKA aufbereitet, um sie zur eingehenderen Untersuchung zurück an die Bundesländer zu schicken – von denen allerdings auch die ursprünglichen Einschätzungen stammen. Die endgültige Überprüfung sei voraussichtlich im zweiten Quartal 2014 abgeschlossen. Danach solle außerdem geprüft werden, ob auch weitere unaufgeklärte Verbrechen wie Sprengstoffanschläge und Banküberfälle auf eine Täterschaft von Neonazis untersucht werden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Dezember 2013


Kartell des Schweigens

Verdacht auf Hunderte rechte Morde

Von Ulla Jelpke **


Das tatsächliche Ausmaß neofaschistischer Gewalt in Deutschland wird von den Behörden seit Jahren kleingeredet. Das ist nichts Neues. Nun muß auch das Bundeskriminalamt zugeben, daß bei bis zu 746 Morden und Mordversuchen ein rechtsextremer Hintergrund unter den Tisch gefallen ist.

Keine Gemeinde und kein Bundesland trägt gerne in der Öffentlichkeit das Stigma einer Nazihochburg. Kommunalpolitiker, aber auch Polizeibehörden verharmlosen deshalb gerne Neonazigewalt in ihrem Zuständigkeitsbereich als Randale unter Alkoholeinfluß oder unpolitische Streitigkeiten unter Jugendlichen, und sie leugnen die Existenz einer neofaschistischen Szene vor Ort.

Die Verschleierung der tatsächlichen Zahl rechts motivierter Tötungen fällt dann besonders leicht, wenn die Opfer Obdachlose oder andere sozial Benachteiligte sind, die keine Lobby haben.

Wenn Angeklagte ihre Zugehörigkeit zur rechten Szene verschweigen, tauchen ihre Verbrechen ebenfalls nicht in der Statistik auf, es sei denn – unwahrscheinlich genug – die Staatsanwaltschaften leiten von sich aus entsprechende Ermittlungen ein. Zudem kommt die offizielle Zählweise diesen Verharmlosungsstrategien entgegen: Ausschlaggebend ist der Nachweis der rechten Tatmotivation. Wenn ein Neonazi einen Obdachlosen erschlägt, hat er das nach Einschätzung der Behörden grundsätzlich »nur« getan, weil er betrunken seinen Frust austoben wollte. Daß man schon ein entsprechendes Weltbild mit klaren Feindbildern mitbringen muß, um im Suff »aus Versehen« zum Mörder an Wehrlosen zu werden, fällt dabei unter den Tisch.

Je weniger offizielle Neonazitaten, desto lauter können Unionspolitiker von der angeblich hohen Zahl von Gewalttaten durch »Linksextremisten« schwadronieren und suggerieren, von Linken gehe eine weit größere Gefahr aus als von Neofaschisten. Das von Verfassungsschutz und Union hochgehaltene Extremismuskonstrukt zielt auf eine diffamierende Gleichsetzung von antikapitalistischer Linker und neofaschistischer Rechter.

Dies kann in der Öffentlichkeit nur funktionieren, wenn das tatsächliche Ausmaß rassistischer und neofaschistischer Gewalt- und Tötungsdelikte vertuscht oder kleingerechnet wird. Denn man stelle sich vor, was in diesem Land los wäre, wenn hier in den vergangenen zwei Jahrzehnten womöglich hunderte Todesopfer linker Gewalt zu beklagen wären.

Das Kleinrechnen der Neonazigewalt scheiterte nun jedenfalls teilweise an einer aufmerksamen Öffentlichkeit. Polizei und Geheimdienste müssen sich seit der NSU-Affäre gegen den nur allzu berechtigten Vorwurf wehren, auf dem rechten Auge nichts sehen zu wollen. Daher nun die Neuauswertung. Jetzt gilt es aufzupassen, daß die Behörden in den nächsten Monaten nicht alle Mühe darauf verwenden, die »Verdachtsfälle« wieder einen nach dem anderen auszusortieren.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Dezember 2013 (Kommentar)


Zurück zur Seite "Rassismus, Rechtsradikalismus, Neofaschismus"

Zurück zur Homepage