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"Parallelgesellschaft", Integration oder Assimilation?

Zwei kontroverse Beiträge zum sog. Kopftuchstreit

Vor kurzem haben wir einen längeren Beitrag des Osnabrücker Sozialwissenschaftlers Mossen Massarrat zum sog. Kopftuchstreit dokumentiert (der Artikel stammte aus dem "Freitag"): "Ein Stück Identität. Notizen zu einem Kulturkampf". Niels-Arne Münch, Sozialwissenschaftler aus Göttingen, hat daraufhin eine geharnischte Kritik an Massarrats Ansichten veröffentlicht, die Massarrat wiederum zu einer Replik herausforderte.
Im Folgenden dokumentieren wir
  1. den Artikel von Niels-Arne Münch,
  2. die Replik von Mossen Massarrath.
Beide Beiträge wurden ebenfalls im "Freitag" veröffentlicht.

Der Debatte voranschicken möchten wir ein Zitat aus einem taz-Artikel, der uns gut gefallen hat. Katharina Rutschky macht folgenden ebenso einfachen wir entwaffnenden Vorschlag:

"Mein eigentlicher Vorschlag zur Lösung des Problems lautet jedoch noch einmal ganz anders. Wir - das heißt alle mit Ausnahme der Besucher des Wiener Opernballs - haben keine Kleiderordnung. Wenn eine Frau nur mit Kopftuch öffentlich erscheinen will, dann ist das okay. Kinder und Schüler dürften hier kaum Probleme haben - der Lehrkörper ist ihnen sowieso Gegenstand höchster Verwunderung. Wir akzeptieren Frau Ludins Behauptung, dass ihr Kopftuch total privat gemeint ist. Nichts als ein Akt der Selbstbestimmung. Der Kampf geht weiter..." (taz vom 23.02.2004)

Wollen wir eine Parallelgesellschaft?

Von Niels-Arne Münch*

Replik zu Mohssen Massarrats Artikel zum Kopftuch-Streit "Ein Stück Identität" im "Freitag" vom 16. Januar 2004

In Baden-Württemberg werden sowohl die regierende CDU/FDP-Koalition als auch die oppositionelle SPD Ende März einem Gesetzentwurf zustimmen, mit dem das muslimische Kopftuch in den Schulen des Bundeslandes verboten wird. Am 24. September 2003 hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem "Kopftuch-Urteil" die Länder aufgefordert, in dieser Sache eigene gesetzliche Regelungen zu schaffen. Die Richter in Karlsruhe waren zuvor von der Lehrerin Fereshta Ludin angerufen worden, die auf das Tragen des Kopftuchs im Unterricht nicht verzichten wollte.

Mit dem "Kopftuch-Streit" sei in Deutschland eine Art "Kulturkampf" entfacht worden, schrieb dazu im Freitag vom 16. Januar (Ausgabe 4/2004) unser Autor Mohssen Massarrat. Die Tendenz "das Kopftuch verbieten zu wollen", sei alles andere als "ein Gütesiegel für den Reifegrad der Demokratie". Es gehe für Musliminnen statt dessen darum, "trotz ihres für die Mehrheitskultur fremden Erscheinungsbildes im öffentlichen Leben akzeptiert zu werden". Ein Kopftuchverbot sei daher ein "Rückschlag für die Integration der Moslems in Deutschland". Neben zahlreichen Reaktionen von Leserinnen und Lesern (s. Freitag vom 30. 1. und 6.2.), die es nach diesem Artikel gab, erreichte uns auch eine Erwiderung des Göttinger Sozialwissenschaftlers Niels-Arne Münch, deren wesentliche Passagen wir angesichts des Fortgangs der Debatte auf dieser Seite abdrucken. Die Debatte um das Kopftuchverbot für Lehrerinnen wird mit einer Vielzahl von Affekten und Vereinfachungen geführt, leider macht da auch der Artikel von Herrn Massarrat keine Ausnahme. Sein Text strotzt nur so von den Spiegelbildern jener Vereinfachungen, die der Autor seinen Gegnern vorwirft. Dabei ist es gar nicht nötig, wie Alice Schwarzer "islamistische Kreuzzüge" zu wittern, um das Urteil des Verfassungsgerichts zu begrüßen.

Aus der Kommunikationsforschung wissen wir heute, wie wichtig Gesicht und Mimik für unsere Fähigkeit sind, mit anderen Menschen zu kommunizieren - für den "ersten Eindruck" ist das Gesicht sogar wichtiger als die Sprache, die wir häufig genug gar nicht verstehen. Frauen vorzuschreiben, ihr Gesicht ganz oder teilweise zu verhüllen, schränkt deren Möglichkeiten, sich anderen Menschen mitzuteilen, erheblich ein. Konsequenterweise begleitet strenge Verhüllungsgebote häufig auch ein Redeverbot mit Männern: Die Frau muss sich nicht nur in Stoff, sondern auch in Schweigen hüllen.

Das Problem des Schleiers ist nicht sein Symbolwert - es sind seine praktischen Folgen für Psyche und Handlungsmöglichkeiten der Verschleierten. Schleier und Kopftuch sind Instrumente eines patriarchalen Herrschaftsanspruchs und nicht bloßes Symbol. Wie die Beschneidungen in Afrika die sexuelle Empfindungsfähigkeit einschränken soll, so behindert die Verschleierung die Entwicklung selbstständiger weiblicher Persönlichkeit.

Einem körperlichen Eingriff ähnlich entzieht die Verhüllung der Frau die Verfügung über ihr Gesicht, das elementarer Bestandteil ihres Menschseins ist. Mit aller Deutlichkeit: Es handelt sich hier um eine sozial erzwungene Behinderung.

Unterschiedlich ist nur deren Ausmaß, je nach dem ob es "nur" um ein Kopftuch, eine Ganzkörperverhüllung oder sogar um ein "Hüllen in Schweigen" geht. In jedem Fall sollen Selbstdarstellung und Entfaltung der Persönlichkeit ver- beziehungsweise behindert werden. Es ist ja auch der erklärte Sinn der Verhüllung, Frauen zu einem "zurückhaltenden" Auftreten in der Öffentlichkeit anzuhalten oder sie von Öffentlichkeit auszusperren.

Dagegen spricht auch nicht, dass islamische Frauen dies häufig anders erleben. Selbstverständlich können repressive Strukturen verinnerlicht werden, bis sie von eigenen Wünschen nicht mehr zu unterscheiden sind. Für Unterdrückte ohne Hoffnung auf Befreiung - und für viele Frauen in patriarchalen Gesellschaften besteht diese Hoffnung nicht - ist dies häufig sogar die einzige Möglichkeit, ihr Los zu ertragen: Das Unterbewusstsein wehrt sich und deutet die Unterdrückung um: Sie wird plötzlich als "gottgewollt" empfunden - oder als besonderer Schutz. Werden solche Selbstzuschreibungen nicht kritisch befragt, führt dies zu grotesken Ergebnissen: In Afrika fühlen sich unbeschnittene Frauen häufig "unrein". - Sollen wir deshalb Frauenbeschneidung als zu tolerierende kulturelle Eigenart betrachten? Viele Kulturrelativisten tun dies und halten sich für fortschrittlich. Ich halte solche Positionen für zynisch.

Moslemische Frauen tragen nach Auffassung von Herrn Massarrat das Kopftuch oder den Schleier "aus Gewohnheit, weil sie sich den traditionellen Konventionen ihrer Kulturen verpflichtet" und "sich so subjektiv besser geschützt fühlen". Das klingt harmlos genug, ist aber leeres Gerede: "Gewohnheiten" können fortschrittlich oder rückschrittlich sein, "traditionelle Konventionen" sind teilweise extrem repressiv und taugen deshalb als Argument für gar nichts.

Dies alles kann man schreiben, ohne ein einziges Mal Religion oder den Koran zu bemühen. Das Gesagte gilt nämlich für alle Gesellschaften, Kulturen und Religionen, die Verhüllungsvorschriften gegen Teile ihrer Mitglieder machen. - Muslima alewitischer Glaubensrichtung tragen übrigens traditionellerweise kein Kopftuch.

Sicher: Für viele Muslima in Deutschland und generell im "Westen" ist das Kopftuch der stoffgewordene Kompromiss zwischen familiärem Druck und dem Wunsch, sich in die Gesellschaft einzufügen. Für einige von ihnen handelt es sich dabei um einen "ernsthaften" Kompromissversuch, sie identifizieren sich tatsächlich mit beiden Welten, für andere geht es eher um Konfliktvermeidung. Wie auch immer: Ein Kopftuchverbot bedeutet für diese Frauen eine Zuspitzung dieses Konfliktes. Das ist zweifellos zu bedauern, aber ist es auch zu vermeiden? Sollte nicht ein demokratischer Staat trotzdem an seinen Schulen auf Säkularität und weltanschauliche Neutralität bestehen?

Die Zahl der verschleierten Frauen nimmt weltweit zu, auch in Deutschland. Die Gründe sind vielfältig, der wichtigste ist der wachsende Einfluss fundamentalistischer Gruppen auf die islamischen Gemeinden. Auch die Suche nach Identität in der Fremde oder Angst vor der Moderne mag eine Rolle spielen. Das islamische Kopftuch ist ein Sammelbegriff, zu dem neben Hijab auch der Tschador oder die afghanische Burka gehören. Nicht alle diese Verhüllungsvorschriften sind islamistischen Köpfen entsprungen, aber alle sind mit Vorstellungen über Moral und Geschlechterrollen verbunden, die seit dem 19. Jahrhundert hierzulande unüblich geworden sind und zu recht nicht mehr gelehrt werden. Der soziale Prozess, der hinter dem sich Ausbreiten der verschiedenen Formen des Kopftuchs steht, ist eine Rückkehr zum traditionellen Islam, und nicht die Öffnung für säkulare und individualistische Werte. Zu konstatieren ist daher auch in Deutschland keine fortscheitende Integration, sondern das Entstehen einer sich abgrenzenden konservativ-religiösen Parallelgesellschaft.

Unter diesen Vorzeichen wie Herr Massarrat zu sagen: "Ein Kopftuchverbot wäre ... auch ein Rückschlag für die Integration der Moslems in Deutschland", ist Unsinn. Wie so häufig wird Integration hier nur als Schlagwort gebraucht, als Leerformel, ohne die Frage nach einer integrierenden Praxis zu stellen. Das Öffnen unserer Schulen für das Kopftuch fördert nicht die Integration der Muslime, sondern das Ausbreiten eben jener Parallelgesellschaft, deren wesentliche Merkmale ein vormodernes, anti-emanzipatorisches Normensystem und Abgrenzung nach außen sind. Mit einem Wort: Desintegration.

Wenn wir eine solche Parallelgesellschaft nicht wollen, sollten wir Schluss machen mit falscher Toleranz, die in Wahrheit nur Abgrenzungswünsche passiv hinnimmt. Schon heute ist das Kopftuch für Schülerinnen meist mit weiteren Sanktionen wie "Befreiungen" vom Sportunterricht oder Klassenfahrten gekoppelt. Wie soll aber Integration in der Schule gelingen, wenn überall dort, wo Kinder bevorzugt einander kennen lernen, die muslimischen Mädchen fehlen? Integration bedeutet, sich auseinanderzusetzen, aneinander teilzuhaben, vom Gegenüber zu lernen, sich kritisieren zu lassen, aber auch, den anderen zu kritisieren. Toleranz sollte immer der Integration dienen, sollte den Blick auf das Gemeinsame lenken und Raum für aktive, respektvolle Auseinandersetzung öffnen.

Wo Toleranz aber lediglich das Fremd-Sein und Fremd-Bleiben fördert, ist sie fehl am Platz. Deshalb befürwortet ja Dalil Boubakeur, der Imam der Großen Pariser Moschee, das in Frankreich auf den Weg gebrachte Kopftuchverbot bei Lehrerinnen und Schülerinnen: Das Kopftuch betone das Anderssein und behindere die Integration.

Ein Kopftuchverbot wird für viele Muslima, die in diesem Stoff einen gangbaren Kompromiss sahen, eine große Enttäuschung sein. Aber so sehr Kompromisse immer nötig sein werden, so nötig sind zuweilen auch klare Entscheidungen: Wer in einem Kernbereich unserer Gesellschaft arbeiten will, wer eine Position haben will, in der er zwangsläufig zum Vorbild für die nächste Generation wird, sollte sich zu dieser Gesellschaft bekennen, sich für sie entscheiden und Normen wie Gleichberechtigung, Säkularismus und das Recht auf individuelle Selbstentfaltung vorleben. Hier ist kein "Kompromiss" mit einer ganz anderen Realität und Normenwelt hinzunehmen. Frau Ludin, die Lehrerin, die für ihr Recht auf das Kopftuch klagte, erklärte vor Gericht, ohne dieses Stück Stoff fühle sie sich "nackt". Werden dann nicht zwangsläufig auch Schülerinnen ohne Kopfbedeckung für sie "nackt" - also "schamlos" - erscheinen? Und selbst wenn Ludin diesen Spagat bewältigen sollte, ist dieser Konflikt nicht überall programmiert, wo wir verschleierte Frauen zum Unterricht zulassen? Unseren Kindern sollte etwas anderes vorgelebt werden. Auch sollte Mädchen aus traditionell gesinnten islamischen Familien, die bei uns zur Schule gehen, gezeigt werden, dass diese Gesellschaft ihnen eine Alternative bietet zum Leben hinter dem Schleier oder unter dem Kopftuch.

* Der Autor ist Sozialwissenschaftler an der Universität Göttingen und Mitglied von attac.

Aus: Freitag 08, 13.02.2004


Assimilation durch Kopftuchverbot

Von Mohssen Massarrat

Zu Niels-Arne Münchs Artikel "Wollen wir eine Parallelgesellschaft?"


Die Reaktion von Herrn Münch auf meine Kritik des Kopftuchverbots bringt manche bisher unausgesprochenen, aber durchaus heiklen Motive der Befürworter eines solchen Verbots auf den Punkt (auch verborgene Ängste kommen zwischen den Zeilen zum Vorschein). Denkt man viele Argumente zu Ende, sind sie im Grunde genommen ein Plädoyer für eine reinrassige, zumindest aber kulturell homogene Gesellschaft. Die herrschenden Vorstellungen der Mehrheitskultur sollen als verbindlich für alle definiert werden - das heißt, Minderheiten haben sich der Mehrheitskultur zu unterwerfen, wenigstens äußerlich.

Ich halte das Kopftuchverbot tatsächlich für einen Rückschlag, der sich gegen die Integration richtet. Herr Münch bezeichnet meine These als "Unsinn", er will, anstatt die "Leerformel" Integration zu bemühen, die Frage beantwortet wissen, wie Integration in der Praxis stattzufinden hat. Sein Resümee: "Das Kopftuch betone das Anderssein" und behindere daher "die Integration". Im Klartext wird hier allen Ernstes von Einwanderern verlangt, ihr Anderssein aufzugeben, Symbole, die auf ihre fremde Zugehörigkeit verweisen, unsichtbar zu machen. Das Credo lautet: Wir - die Angehörigen der Mehrheitskultur - wollen Euch Fremde eigentlich gar nicht, wir lieben unsere einzigartige Homogenität, vielleicht haben wir auch Angst vor Veränderung und sind uns möglicherweise im Unterbewusstsein unserer kulturellen Überlegenheit gar nicht so sicher. Und Ihr, die Ihr da hergekommen seid, habt - so Ihr hier bleiben wollt - die verdammte Pflicht, uns Eure Duldung zu erleichtern. Herr Münch will im Klartext die "Assimilation", verwendet dafür aber den Begriff "Integration".

Die Mehrheitskultur hält ihr Verlangen nach Assimilation der Andersartigen moralisch für völlig legitim, sie geht wie selbstverständlich von einer Höherwertigkeit eigener Werte und Normen gegenüber den Werten und Normen der Einwanderer aus und erwartet, dass die - nicht zuletzt im eigenen Interesse - den vorherrschenden Normenkodex gefälligst zu übernehmen haben. Wenn nicht freiwillig, dann halt staatlich erzwungen. Ganz anders als die Assimilation, die von Duldung beziehungsweise Tolerierung von Minderheiten ausgeht, leitet sich die Integrationsidee aber vom Prinzip der Gleichwertigkeit der Menschen und Kulturen ab. Sie erhebt gegenseitigen Respekt zum entscheidenden Kriterium für alle Regeln und Rechtsnormen, die in der republikanischen Verfassung verankert und für ein Zusammenleben geboten sind.

Unterdrückung bis in alle Ewigkeit?

Die Befürworter des Kopftuch-Verbots beziehen sich wohlweislich weder auf das Grundgesetz noch das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Stattdessen bedienen sie sich im Kopftuchstreit solcher Begriffe wie "christlich-jüdisches Erbe" (Angela Merkel) oder "unsere westlichen Werte", die sich jenseits von Verfassungsnormen bewegen und daher Interpretationswillkür ausgesetzt sind. Ich habe den leisen Verdacht, dass das Kopftuch islamischer Frauen inzwischen als Vehikel für einen Kulturkampf gegen die Einwanderung und für die Aushebelung der republikanischen Verfassung instrumentalisiert werden soll. Die Verbotsbefürworter meiden nicht nur geschriebene Rechtsnormen wie der Teufel das Weihwasser, sondern auch die Beschäftigung mit den Kopftuch tragenden Menschen und ihren höchst unterschiedlichen Motiven. Sie bedienen sich dabei vielmehr teilweise der absurdesten Konstruktionen, um ihre Argumentation halbwegs moralisch zu untermauern.

"Schleier und Kopftuch sind", sagt Herr Münch, "Instrumente patriarchalischen Herrschaftsanspruchs und nicht bloßes Symbol". Soweit so gut. Diese historisch richtige Feststellung wird jedoch in dem Moment zur Konstruktion, indem - wider jegliche Empirie - Emanzipation und Kopftuch für immer als miteinander unvereinbar erklärt werden. Millionen muslimischer Frauen mit Kopftuch in der islamischen Welt als Vorgesetzte Hunderter Männer in Hospitälern, Universitäten, Banken, Versicherungen, Administrationen und in der Industrie sorgen für den Gegenbeweis: Muslimischen Frauen gelang es sehr wohl, sich trotz des Kopftuchs von patriarchalischen Strukturen zu emanzipieren.

Es ist übrigens ein historisch ganz und gar normaler Vorgang, dass der Inhalt sich vor der Form emanzipiert - lange bevor seine alte Hülle verschwindet. Diese dialektische Wechselbeziehung sollte Herrn Münch als Sozialwissenschaftler bekannt sein. Die republikanischen Lebensstile wurden im Schoß religiös beherrschter Staaten in Europa geboren und haben sich Jahrhunderte lang entwickelt, bevor die mittelalterliche Hülle verschwand.

Wenn Herr Münch Frau Ludin zu einer Kompromissfrau "zwischen familiärem Druck und dem Wunsch, sich in die Gesellschaft einzufügen", zurecht definiert, um ihr dann durch das Kopftuchverbot den Weg zu ebnen, sich dieses Kompromisskorsetts zu entledigen, ist das nicht nur arrogant, sondern auch menschenverachtend, weil er ihr und vielen anderen Musliminnen einfach nicht abnimmt, dass sie keine Kompromissfrauen sind, sondern sich nur aus religiöser oder individueller Überzeugung für das Kopftuch entschieden haben. Selbstverständlich gibt es auch Musliminnen mit Kopftuch, die in das Muster einer verinnerlicht Unterdrückten (Münch) passen. Es gibt eine Minderheit von ihnen, die vor allem die symbolisch-missionarische Bedeutung des Kopftuchs ausdrücken will und auf persönliche Entfaltung durch Beruf und Aufstieg in die Mehrheitsgesellschaft bewusst verzichtet. Merkwürdigerweise sehen die Verbotsbefürworter ausgerechnet Letztere auf dem Vormarsch, während die trotz des Kopftuchs längst emanzipierten Musliminnen ignoriert werden.

Ablehnung des Kopftuchverbots heißt im Übrigen keineswegs Zustimmung zum Kopftuch, erst recht nicht Zustimmung zum Kopftuchzwang durch patriarchalische Väter oder Ehemänner. Dieses Missverständnis spielt bei vielen Verbotsbefürwortern - auch in einigen Leserbriefen an den Freitag - eine wichtige Rolle. Das Kopftuch mag einigen nicht ansehnlich erscheinen, es geht aber in diesem Streit um die Schönheit des Rechts.

Die Auswirkungen des Verbots sind hinsichtlich der Ausgrenzung aller muslimischen Frauen über die Schulen hinaus in Frankreich schon jetzt verheerend. Dort wird Frauen mit Kopftuch der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen - etwa einer Bank - verwehrt. In Kassel fertigte die Passbehörde eine Frau nicht ab, weil sie ein Passfoto mit Kopftuch mitgebracht hatte. Erst ein richterlicher Bescheid gebot der Behörde Einhalt. Berichte über das Anpöbeln von Musliminnen häufen sich.

Die Folgen des Kopftuchverbots können wir am besten studieren, indem wir auf die laizistische Türkei und die Islamische Republik Iran blicken. In der Türkei sind die traditionellen islamischen Frauen (mindestens 50 Prozent) faktisch aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verbannt. Im Iran wiederum werden westliche orientierte Frauen durch Schleierzwang erniedrigt und teilweise diskriminiert.

Die Schule - ein ideologiefreier Raum?

Die Schule sei der Ort, in dem neben der Wissensvermittlung auch positive Werte der Gesellschaft wie individuelle Freiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter und anderes mehr vermittelt werden - so eine häufig bediente These, die - in Verbindung mit der Annahme, das Kopftuch sei Symbol der Unfreiheit und Frauenunterdrückung schlechthin - von Protagonisten wie Frau Schavan (CDU/*) vorgetragen wird, um ein Kopftuchverbot in der Schule moralisch zu rechtfertigen. Nur ist die Schule durchaus nicht der neutrale Ort, wie das die Verbotsbefürworter suggerieren. Vielmehr sind unter der Lehrerschaft nicht selten gläubige Christen, Juden, muslimische Männer oder Anhänger von Weltanschauungen, denen ein patriarchalisches, frauenfeindliches und fremdenfeindliches Denken eigen ist. Es ist daher vollkommen weltfremd, die Schule ausgerechnet dann zum religionsfreien Raum zu erklären, wenn es um muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch geht. Außerdem bleibt die Schule ein ungemein wichtiger Ort der geistigen Auseinandersetzung, wenn unterschiedliche Kulturen und Religionen aufeinander treffen. Vielfach wird sie zum wichtigsten Korrektiv für die Erziehung in der Familie.

Allerdings ist die Schule nur dann für die freie Erziehung der Kinder unverzichtbar, wenn sie die gesamte Gesellschaft mit all ihren positiven und negativen Seiten widerspiegelt. Diese herausragende Funktion müsste eigentlich den von Amts wegen für Bildung und Erziehung verantwortlichen Ministerinnen Schavan und Bulmahn (SPD), aber auch der Hannoveraner Bischöfin Margot Käßmann geläufig sein und sie ein Kopftuchverbot ablehnen lassen. Stattdessen wird mit der absurden Behauptung, muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch könnten durch ihre Vorbildfunktion junge Mädchen missionieren, die Angst der Mütter und Väter vor der Gefahr eines islamischen Fundamentalismus geschürt.

Bundespräsident Rau hat sich mit seiner klaren Stellungnahme gegen ein Kopftuchverbot nicht nur gegen die einseitige Diskriminierung muslimischer Frauen und eine möglicherweise unheilvolle Entwicklung gewandt, er hat mit seiner Position auch vielen widersprochen, die ansonsten als überzeugte Befürworter einer pluralistischen Demokratie gelten. Es bleibt zu hoffen, dass Bundestagspräsident Thierse und andere, die gern Respekt gegenüber fremden Kulturen predigen, die Folgen ihres Votums für ein Kopftuchverbot zu Ende denken. Parallelgesellschaften, die Herr Münch befürchtet, können am wirksamsten durch die konsequente Verbreitung republikanischer Werte verhindert werden, die von einer Gleichwertigkeit der Kulturen und Religionen ausgehen. Eine Assimilation in die Mehrheitskultur oder die künstliche Erzeugung kultureller Homogenität sind der falsche Weg.

Eine nüchterne und faire Analyse würde zeigen, dass ein Kopftuchverbot dem Grundgesetz und der politischen Vernunft widerspricht. Sollte es diese Analyse eines Tage geben, wird die jetzige intensive und aufgeregte Debatte als ein überfälliger Beitrag erscheinen, um das republikanisch-pluralistische Denken in der Gesellschaft zu vertiefen.

* Annette Schavan ist Ministerin für Jugend, Kultur und Sport in Baden-Württemberg

Aus: Freitag 09, 20.02.2004


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