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Alle Mittel freigegeben

Magdeburg: Massive Polizeigewalt ermöglichte Aufmarsch von Neofaschisten. Gegendemonstranten mit Pfefferspray und Schlagstock an Protest gehindert

Von Susan Bonath *

Bei rechten Übergriffen auf Migranten, Linke und Andersdenkende liegt Sachsen-Anhalt bundesweit vorn. Mehrere Menschen wurden dort in den letzten 20 Jahren von Neofaschisten ermordet. Doch Landesinnenminister Holger Stahlknecht (CDU) wurde schon vor dem Neonaziaufmarsch in Magdeburg am vergangenen Wochenende nicht müde, vor »linksextremistischen Gewalttätern« zu warnen und Blockaden als »nicht legitim« zu diskreditieren. Gegen angeblich gewaltbereite Linke – nicht gegen die rechte geschichtsverfälschende Propaganda – richtete sich auch der Einsatz von mehr als 2000 Polizisten aus zehn Bundesländern inklusive Reiterstaffeln und schweren Geschützen. »Unsere Strategie, die beiden Lager zu trennen, ist aufgegangen«, lobten sie sich anschließend Stahlknecht und Polizeiführung.

»In Sonderzügen wurden die Nazis in den Süden Magdeburgs chauffiert, wo man jegliche Proteste in ihrer Nähe unter Strafverfolgung unterband«, kritisierte am Montag hingegen das Bündnis »Magdeburg nazifrei«. Dafür habe sich sogar die Deutsche Bahn einspannen lassen, »während sie uns zuvor verbot, eine Lichtinstallation im Hauptbahnhof anzubringen«, ergänzte Bündnissprecherin Lia Pollmann. Das sei ein Skandal und müsse genauso thematisiert werden wie die »eskalative Polizeitaktik«, die für mehr als 100 Verletzte – zwei davon schwer – gesorgt habe. Stahlknecht behauptete hingegen am Dienstag erneut, daß lediglich ein Demonstrant verletzt worden sei. Allein junge Welt hat vor Ort acht Personen mit blutenden Wunden und schweren Augenverletzungen durch Pfefferspray registriert.

Die grüne Landtagsabgeordnete Cornelia Lüddemann beschreibt auf ihrer Internetseite eine Polizeiattacke auf eine friedliche Demonstration in der Innenstadt. Eine Gruppe vermummter Polizisten habe plötzlich den Protestzug überholt. »Ich hörte sie rufen: Alle Mittel sind freigegeben. Dann stürzte sie in vollem Lauf auf die erste Reihe, setzte sofort Pfefferspray und Schlagstöcke ein.« Später habe Lüddemann versucht, für gut 1000 Eingekesselte eine Spontandemo anzumelden. »Erst sprach die Polizei noch mit uns, später nicht mehr«, so Lüddemann. »Statt dessen zog sie immer wieder Teilnehmer offenbar willkürlich aus dem Kessel.«

Nach Ansicht des linken Landtagsabgeordneten Wulf Gallert war »das Nazievent« am Samstag nur durch das massive Behindern von Gegenprotesten und die Geheimhaltungspolitik der Polizei möglich. Wie »Magdeburg nazifrei« kritisierte er, daß die Rechten eine Kundgebung vor einem alternativen Wohnprojekt abhalten durften. Laut Zeugen wurde den dortigen Bewohnern derweil angedroht, mit Rammböcken und Kettensägen das Haus zu stürmen. Polizeiliche Übergriffe auf Protestierende habe Gallert selbst auf der vom Bündnis gegen rechts organisierten »Meile der Demokratie« erlebt.

Auf diesem in manchen Kreisen ironisch »Bratwurst essen gegen Nazis« genannten Fest sprach junge Welt mit einer Rollstuhlfahrerin, die mittendrin gewesen sei und einen Schock erlitt. »Polizisten stürmten mit Knüppeln an mir vorbei. Ich hatte wahnsinnige Angst, getroffen zu werden. Ich konnte ja nicht so schnell weg«, resümierte sie. Drei Jugendliche berichteten davon, wie zwei ihrer Begleiter plötzlich von zehn Beamten in Vollmontur angegriffen, über den Boden geschleift, gefesselt und festgenommen wurden. »Dabei waren wir vorher nicht mal an einer Aktion beteiligt«, versicherten sie. Andere Zeugen erinnerten sich, daß Polizisten massenhaft »links Aussehende« aus Straßenbahnen geworfen hätten.

Die Neonazis sollen indes keinesfalls so friedlich gewesen sein, wie sie Innenminister und Polizeiführung, die mehrfach betonen, nur von Linken sei Gewalt ausgegangen, darstellten. Wie die taz schrieb, griffen einzelne Rechte am Hauptbahnhof sowohl Gegendemonstranten als auch Journalisten an. Letztere seien laut Zeugen auch während des Aufmarsches attackiert worden. Wie die »Antifaschistische Aktion Burg« mitteilte, kam es zudem am Samstag abend zu einem rechten Übergriff. »Eine Gruppe Antifaschisten wurde auf dem Nachhauseweg von rund zwei Dutzend bekannten Neonazis beschimpft, getreten und geschlagen.« Anschließend seien die Angreifer mit Autos geflüchtet.

magdeburg-nazifrei.com

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. Januar 2013


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