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Nazis an den Stadtrand verdrängt

Tausende protestieren in Magdeburg gegen rechten Aufmarsch

Von Hendrik Lasch *

Massive Proteste haben einen rechten Aufmarsch in Magdeburg auf eine geänderte Route gezwungen. Blockiert werden konnte der Aufzug aber nicht. Die Polizei schikanierte Nazigegner.

Gespielt wird die äußerst beschwingte Annen-Polka: Ein kleines Orchester mit Geigen, Klarinette und Blechbläsern musiziert am Rand einer Straße im Magdeburger Elbauenpark. Daneben sitzen und stehen bei klirrender Kälte rund 200 Menschen auf Bahngleisen und der Fahrbahn. Seit dem Samstag morgen harren sie aus, um die vermutete Route eines rechten Aufmarschs zu blockieren. Einen Kilometer weiter sind es sogar rund 1000 Menschen, die eine große Kreuzung besetzt halten.

Magdeburg erlebt an diesem Samstag ein düsteres Spektakel. Wie schon seit Jahren, versucht die rechtsextreme Szene, das Gedenken an die Zerstörung der Stadt am 16. Januar 1945 zu vereinnahmen. Lange stand der Marsch, an dem regelmäßig über 1000 Nazis teilnahmen, im Schatten des Ereignisses vier Wochen später in Dresden, das als eines der größten Treffen der rechten Szene in Europa galt. Zuletzt aber hatten Blockaden den Nazis dort zunehmend den Schneid abgekauft. Die könnten, so war vermutet worden, deshalb verstärkt nach Magdeburg mobilisieren. Gewarnt wurde vor bis zu 2500 Rechtsextremen.

Die Zahl stammte vom Bündnis „Magdeburg nazifrei!", das sich 2012 gegründet hatte und die in Dresden erfolgreiche Strategie auch in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt praktizieren wollte. Auf diese Initiative hin sammelten sich die Nazigegner auf den Straßen im Stadtteil Cracau. Dort, so hatte sich angedeutet, sollten die Nazis laufen dürfen: Angemeldete Proteste waren verboten worden. Allerdings störten Gerichte diese Strategie von Stadt und Polizei, die eine ebenfalls aus Dresden bekannte Strategie anwenden und die beiden Lager durch die Elbe hatten trennen wollen. Die Richter indes erlaubten die Proteste am Elbauenpark.

Dass Demonstranten dort in derart großer Zahl Straßen und Kreuzungen versperrten, ist für Magdeburg eine neue Entwicklung. Bisher hatte sich die Stadt vor allem mit einer „Meile der Demokratie" gegen die braune Vereinnahmung gewehrt. Diese fand am Samstag erneut und damit zum fünften Mal zwischen Landtag und Rathaus statt: mit Ständen von Vereinen und Initiativen, Parteien und Gewerkschaften. Die bunte Veranstaltung sei ein Signal, dass „die Stadt den Bürgern gehört und nicht den Nazis", sagte CDU-Landtagspräsident Detlef Gürth. Oberbürgermeister Lutz Trümper (SPD) ergänzte, es seien „99 Prozent der Magdeburger in Gedanken gegen" die Nazis. Er räumte aber ein, „aus verschiedenen Gründen" seien nicht alle auf der Meile.

Selbst wenn sie es gewesen wären: Um die Braunen wirklich zu beeinträchtigen, sei das eine „untaugliche Aktion", wie es beim Nazifrei-Bündnis heißt. Auch LINKE und Grüne, die beide die Meile unterstützen, riefen diesmal zu Blockaden auf, um wirksameren Widerstand leisten zu können. LINKE-Landeschefin Birke Bull äußerte sich allerdings schwer enttäuscht, dass die SPD sich nicht anschloss, sondern die Blockaden teilweise sogar diskreditierte. Trümper etwa sagte, er habe zwar Sympathie für zivilen Widerstand, aber „es hat alles seine Grenzen".

Über 2000 Menschen sahen das anders – konnten den Aufmarsch der Nazis aber auch nicht verhindern. Dieser wurde kurzerhand in den Süden der Stadt verlegt. Die nur 900 Braunen marschierten, von einem Großaufgebot der Polizei abgeschirmt, an Industriebrachen vorbei in den Stadtteil Salbke. Ein Redner räumte ein, die Verlegung sei ärgerlich: Man wäre „lieber an der ehemaligen Hindenburgkaserne" aufmarschiert, also am Elbauenpark. Allerdings wurde dem Zug, den Freie Kräfte aus Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Dortmund formten, eine Kundgebung vor dem antifaschistischen Libertären Zentrum (LiZ) gestattet – was für Empörung sorgte: David Begrich vom Verein „Miteinander" nannte das eine „Provokation" und warf der Polizei vor, den Rechten einen unnötigen „Terraingewinn" ermöglicht zu haben.

Auch andere Aktionen der Polizei sorgten für Kritik. Diese kesselte Hunderte Antifaschisten, die auf dem Weg in den Magdeburger Süden waren, über Stunden im Stadtzentrum ein und sorgte durch wiederholte Festnahmen für eine zunehmend gereizte Stimmung. Nachdem die Demonstranten zum Hauptbahnhof ausgewichen und dort erneut auf ein massives Aufgebot der Polizei getroffen waren, flogen Steine; die Beamten griffen umgehend hart durch, wobei es Verletzte gab. Die Nazis waren zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in ihre Züge gestiegen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 12. Januar 2013


Sonderzug für Neonazis

Rechtes »Gedenken« in Magdeburg: Polizei läßt Faschisten in Außenbezirk marschieren. Gegendemonstranten wurden abgeschirmt

Von Susan Bonath, Magdeburg **


Knapp 1000 Neofaschisten waren am Samstag nach Magdeburg gereist, um »die deutschen Opfer« des Bombenangriffs der Alliierten von 1945 zu »betrauern«. Die rund 3000 Gegendemonstranten, die dem Aufruf des Bündnisses »Magdeburg Nazifrei« gefolgt waren, hätten sie ohne weiteres blockieren können. Hätten, denn die Beamten geleiteten die vor allem aus der freien Kameradschaftsszene stammenden Rechten in den südlichen Außenbezirk Salbke. Und zwar per S-Bahn, wodurch zeitweise der Zugverkehr lahmgelegt wurde. Dort schützte die Polizei, die mit über 2000 Kräften, Reiterstaffeln und Wasserwerfern im Einsatz war, den Aufmarsch vor jeglichem Protest.

Hart gingen die Einsatztrupps gegen Antifaschisten vor. Personen- und Buskontrollen, Brücken- und Straßensperren hinderten viele daran, zu gerichtlich durchgesetzten Aktionen östlich der Elbe zu gelangen. Dort sollte der Aufmarsch wohl ursprünglich stattfinden. Dennoch gelang es mehr als 1000 Demonstranten, den dortigen Bahnhof zu besetzen, eine Blockade zu errichten und eine Mahnwache abzuhalten. Erst am frühen Nachmittag sickerte durch, daß die Polizei die Neonazis knapp zehn Kilometer weiter gen Süden verfrachtet hatte. Trotz genehmigter Kundgebungen erteilte sie dort wartenden Aktivisten Platzverweise.

Zwei Protestzüge in Richtung Süden hielt die Polizei schon in der Innenstadt auf. Einer wurde stundenlang festgesetzt, einen anderen attackierten vermummte Einheiten ohne Vorwarnung mit Pfefferspray und Knüppeln. Dabei verletzten sie unter anderem eine 45jährige Frau. Die Einsatztrupps verfolgten fliehende Demonstranten bis auf die vom »Bündnis gegen Rechts« organisierte bunte »Meile der Demokratie«. Wie jW wurden auch Vertreter der Linkspartei Zeuge davon, wie behelmte Polizisten auf das Straßenfest stürmten. Deren Bundestagsabgeordnete Rosemarie Hein zeigte sich »betroffen«. »Daß die Polizei friedliche Besucher derart angreift, zeigt uns, daß hier mehr passieren muß«, sagte sie. Ein anderes Mal griffen zehn vermummte Beamte unvermittelt den Stand der Friedensinitiative »Offenen Heide« an. »Sie zogen zwei Jugendliche heraus, schleiften sie brutal über den Boden zum Einsatzwagen, fesselten sie und nahmen sie mit«, berichteten mehrere Zeugen.

Die Rechten marschierten indes unter Polizeischutz an den südlichen Wohnvierteln vorbei. Als »besondere Provokation« bezeichnete es das Bündnis »Magdeburg Nazifrei«, daß sie eine etwa einstündige Kundgebung vor einem libertären Wohnprojekt abhalten durften. Darin befindliche Personen habe die Polizei mit Kettensägen und Rammböcken in Schach gehalten, heißt es. Am Ende wurden die Neonazis wieder in eine S-Bahn zum Hauptbahnhof gesetzt, wo Beamte sie auf weiterführende Züge verteilten. Dafür riegelten sie die Bahnhofshalle ab. »Man kam nur noch mit gültigem Ticket durch«, berichteten Augenzeugen.

Bündnissprecher Robert Fietzke kritisierte die »unverhältnismäßig aggressive Weise«, mit der die Polizei antifaschistische Proteste unterband. Offenbar habe sie zudem Technik für Handyortung einsetzt. Mindestens 134 Menschen seien durch Polizeigewalt verletzt worden, bilanzierte er. Der Ermittlungsausschuß sprach von zwei schwerverletzten Frauen. Eine sei bewußtlos geschlagen worden, eine weitere habe blutüberströmt am Hauptbahnhof gelegen. Der Rechtsanwalt Paulo Dias beklagte, daß Einsatztrupps häufig grundlos in friedliche Menschenmengen gestürmt seien. Zumindest aber, so Fietzke, sei es den Demonstranten gelungen, den Aufmarsch in die Peripherie der Stadt zu verdrängen.

Sachsen-Anhalts CDU-Innenminister Holger Stahlknecht, der vorher vor »gewaltbereiten Linksextremisten« gewarnt hatte, lobte hingegen den Einsatz. Die Polizei sprach von mehreren Angriffen gegen Beamte mit Flaschen oder Rauchbomben und beklagte 19 Verletzte.

Ein für den kommenden Samstag geplanter Aufmarsch wurde von den Neonazis kurzfrisitg abgesagt.

** Aus: junge Welt, Montag, 14. Januar 2013


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