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Bedrückungen

Ein Buch Thomas Lührs über Krise und "Rechtspopulismus"

Von Werner Seppmann *

Thomas Lührs Buch »Prekarisierung und ›Rechtspopulismus‹. Lohnarbeit und Klassenbewußtsein in der Krise« ist von dramatischer Aktualität. Denn wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die braune Gefahr größer ist als allgemein dargestellt, dann hat ihn nicht erst die Aufdeckung des »Zwickauer Terrortrios« geliefert: Auch relevante politische Kräfte (Guttenberg und Co.) formieren sich, um einer rechten Stimmungslage ein organisatorisches Profil zu geben.

Bei allen Diskussionen über das »Versagen« der staatlichen Apparate in der Auseinandersetzung mit dem Neofaschismus, trotz demonstrativer Betroffenheitsgesten und »Aufdeckungsbemühungen«, wird über die gesellschaftlichen Ursachen des Neofaschismus konsequent geschwiegen. Unausgesprochen bleibt, daß Fremdenfeindlichkeit und Menschenhaß ebenso wie fetischisierte Bewußtseinsformen und eine latente Aggressionsbereitschaft aus den Funktionsprinzipien der kapitalistischen Gesellschaftsformation resultieren: Es ist die für den Kapitalismus konstitutive Konkurrenzorientierung, durch die die Gesellschaftssubjekte gegeneinander positioniert werden; es ist seine krisengeprägte Entwicklungsform, die sie verunsichert und – wenn alternative Formen der Orientierung an den Rand gedrängt sind – zu irrationalistischen Erklärungsmustern greifen und unter bestimmten Umständen auch in einen gewalttätigen Aktivismus abgleiten läßt.

Nicht einmal vom Naheliegenden ist bei der politischen und massenmedialen Beschäftigung mit dem gewaltbereiten Faschismus die Rede, daß nämlich die Verbreitung des Rechtsextremismus insbesondere in Ostdeutschland eng mit der Ausdehnung von Prekaritätszonen und der Verallgemeinerung sozialer Perspektivlosigkeit zusammenhängt. Viele Menschen wurden durch die Rekapitalisierungsprozesse aus der Bahn geworfen, und ihnen ist deutlich zu verstehen gegeben worden, daß sie sozial überflüssig geworden sind. Dadurch waren sie leicht von rechtsradikalen Propagandisten zu beinflussen – die anfänglich fast ausnahmslos aus dem Westen kamen.

In gesamtdeutscher Perspektive hat auf dem Territorium der DDR in dem Sinne eine »nachholende Entwicklung« stattgefunden, was in den Jahrzehnten zuvor in den westlichen Teilen des Landes geschah: Sozial verunsicherte und durch die Krisenentwicklung psychisch destabilisierte Menschen öffneten sich bereitwillig (auch weil sie immer schon latent in den Alltagszusammenhängen existieren) rechten Stimmungen und »rechtspopulistischen« Pseudoerklärungsmustern.

Thomas Lühr erklärt mit den Methoden einer historisch-materialistischen Subjektwissenschaft, warum existentiell bedrohte und sozial entwurzelte Menschen nach dem ersten weltanschaulichen Strohhalm greifen, um sich die Illusion einer »Welterklärung« und sozialer »Handlungsfähigkeit« zu verschaffen.

Die bedrohlichen Umwälzungen der Sozialverhältnisse, die Ausbreitung prekärer Arbeits- und Lebensformen und mit ihnen die Verallgemeinerung von Unsicherheit und Existenzangst führen zwar nicht zwangsläufig zur Entwicklung rechtsextremer Dispositionen. Aber es existiert eine hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Ausbreitung und Akzeptanz, wenn die Kultur eines kritischen Wissens und Widerstandsbewegungen gegen die sozioökonomische Krisenentwicklung schwach entwickelt sind.

Ausführlich analysiert Lühr, daß diese Reaktionen eine selbstunterdrückende Verarbeitungsform von Krisenerfahrungen darstellen, die Betroffenen ihre Bedrückungen faktisch in einer herrschaftskonformen Weise zu bewältigen versuchen. Er beschäftigt sich aber auch mit den Bedingungen (politisch-kultureller und organisatorischer Art), die einer progressiven Verarbeitungsform bzw. konkret ausgedrückt, der Entwicklung von Klassenbewußtsein und Klassenhandeln, förderlich sind.

Lührs Buch setzt für eine linke Diskussion Maßstäbe, der in wichtigen theoretischen Belangen ihre kritischen Denkzeuge abhanden gekommen sind und die sich nicht selten desorientiert präsentiert. Der Autor zeigt unmißverständlich, daß gerade zum Verständnis subjektiver Reaktionsmuster und individueller Bewußtseinsformen die klassentheoretische Sichtweise unverzichtbar ist. Denn Subjektivität und die mit ihr verbundenen Gesellschaftsbilder entstehen ausschließlich im Kontext konkreter Sozial­lagen und Machtkoordinaten – auch wenn sie nicht vollständig aus ihnen zu erklären sind. Sie sind von ihren objektiven Entstehungsbedingungen nicht gänzlich »determiniert«, weil mehr als nur ein Rest individueller »Selbsttätigkeit« existiert, sich die Subjektivitätsstrukturen der Alltagssubjekte durch die Auseinandersetzung mit ihren materiellen und ideologischen Existenzbedingungen herausbilden.

Die Quintessenz der subjekttheoretischen, sozialpsychologischen und ideologiekritischen Beschäftigung mit dem Rechtsextremismus bei Lühr ist, daß zu einer wirksamen Initiative gegen rechts der bloß vernunftorientierte Appell nicht ausreicht. Den »Mühseligen und Beladenen« müssen realistische Lebensperspektiven, und das heißt Konzepte der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, vermittelt werden, die ihren Problemen und Lebensansprüchen angemessen und alltagspraktisch plausibel sind.

Thomas Lühr: Prekarisierung und »Rechtspopulismus« - Lohnarbeit und Klassenbewußtsein in der Krise. PapyRossa Verlag, Köln 2011, 136 Seiten, 14 Euro

* Aus: junge Welt, 19. Dezember 2011


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