"Diese Demonstration ist eine mehrfache Perversion"
Eine kritische Stellungnahme zur Berliner Demo vom 9. November von Wolf-Dieter Narr und Roland Roth
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie veröffentlichte aus Anlass der Berliner Großdemo am 9. November 2000 eine Erklärung, die mit der "anständigen" Politprominenz schwer ins Gericht geht. Das Komitee hat mit der Kritik absolut Recht, soweit sie sich auf die Scheinheiligkeit der Regierenden bezieht, die für eine weltoffene, tolerante und ausländerfreundliche plädieren und gleichzeitig Asylbewerber und Flüchtlinge abschieben (lassen) und weiter an der uneinnehmbaren "Festung Europa" bauen. In der Pauschalität, in der die Kritik vorgetragen wird und damit auch den Großteil der 200.000 Menschen trifft, der guten Glaubens etwas gegen Rechts tun wollte, sind Zweifel angebracht, ob hier nicht über das Ziel hinaus geschossen wird. Auf der Kundgebung hat ja nicht nur Bundespräsident Rau gesülzt, sondern es sprach z.B. auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel. (Hier geht es zu seiner Rede). Und der hatte etwas zu sagen! -
Köln, den 9. November 2000
November 2000 - Oder wie die etablierten Gruppen der Bundesrepublik
Deutschland deutsche Schuld umlenken, Symbole mißbrauchen und nichts tun,
mißhandelten Menschen zu helfen
Große Demonstrationen sind angekündigt. Sie werden heute stattfinden. In
Berlin mit über 100.000 Menschen und mehr. Organisiert vom bundesdeutschen
"Bündnis für Toleranz“ und den vielen, die ihm wohlgesinnt mitlaufen. Froh,
kostenlos an einer machtvollen Manifestation von oben teilzunehmen, vergeßlich
darüber, was die hauptsächlich Aufrufenden getan haben, bis zur Stunde
versäumen und nicht tun wollen; oder weil sie´s nicht besser wissen.
Diese Demonstration ist jedoch eine mehrfache Perversion. Sie ist ein
angehäuftes Ärgernis symbolischer Enteignung und praktischer
Zahlungsverweigerung bis in den Tod.
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Verkehrt wird an erster Stelle der urdemokratische Sinn von Demonstrationen.
Aus einer (spontanen) Versammlung von Menschen gegen etablierte Institutionen
und Kräfte, die ihrer Ansicht nach ihren Interessen zuwiderhandeln, wird ein
geradezu regierungsoffizieller, ein Kaiser-Wilhelminischer Aufzug und
Aufmarsch von oben: ich kenne keine vorurteilsvollen, Ausländer
diskriminierenden Deutschen mehr, ich kenne nur noch tolerante. Wahrhaftig
wären jedoch diese Aufmärsche nur dann, wenn die Marschierenden, die
regierungsamtlichen zumal, gegen sich selbst demonstrierten und schleunigst
schlimme die Asyl- und die nur deutschen Wirtschaftsinteressen gemäß sacht
veränderte Ausländerpolitik schleunigst beendeten und qualitativ veränderten.
Nicht die Vorurteile von ohnmächtig belassenen Bürgerinnen und Bürgern, den
jungen zumal, sind der primäre Skandal, vielmehr die Kontinuität einer seit
Jahrzehnten Vorurteile schürend schaffenden Politik.
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Schlimmer noch ist, daß der 9. November 1938, der als "Reichskristallnacht“
schöngelogen worden ist, nach vielen Vorschatten und Vorhandlungen vorweg das
direkte Vorspiel des vom Nazi-Krieg vollends entfesselten Holocaust, nun durch
ein neudeutsches "Bündnis für Toleranz“ versüßt wird. Das erinnernde Mahnmal
dieses Tages wird verfremdet, entfremdet, geraubt. Statt aktiver, vorwärts
gerichteter, sich an den eigenen politischen und bürgerlichen Taten
ausweisender Erinnerung, wird in den fein getuchten Aufzügen, voll
wohlgesetzter selbstgerechter Worte so getan, als habe die offizielle
Bundesrepublik die deutsche Vergangenheit "fertigbewältigt“. Schon die
Begründung des auch deutschen, grundgesetzwidrigen Offensiv-Krieges gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien war am skandalösesten dort, wo Kanzler, Außen- und
Verteidigungsminster in mehrfachem Mißklang Auschwitz und den Nazimörderkrieg
in Jugoslawien just durch einen neuen, durchgehend nur schädlichen
Nato-Interessenkrieg als überwunden ausgaben. Und nun hält diese symbolische
Enteignung an. Um der heutigen Bundesrepublik ein gutes Gewissen als
Ruhekissen aller schrecklichen banalen "normalen“ Politik zu verschaffen.
Einschließlich der standortzweckgerecht fortgesetzten Politik der Vorurteile.
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Als gäbe es keine Grenzen, Ärgerliches, Schamröte Treibendes zu steigern.
Just der 9. 11. 2000 hätte ein Tag sein müssen, ein Tag sein können, da die
reiche Bundesrepublik Deutschland und ihre weltmarktmachtstarken Unternehmen,
auch all ihre heute wie allemal mitlaufenden und mittuenden Bürgerinnen und
Bürger endlich, seit Jahrzehnten überfällig, zu handeln beginnt. Nämlich die
letzten überlebenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auszuzahlen. Und
dies unbürokratisch schnell und direkt so zu tun, daß wenigstens heute die nie
wieder gut zu machende Entwürdigung und Ermordung von Menschen an den wenigen
Überlebenden anerkannt werden würde. Nicht zuletzt um unserer selbst willen,
die wir (fast) alle Kinder und Enkelkinder von Komplizen und Komplizinnen sind.
Was wird seit Jahr und Tag statt dessen getan? Übrigens primär um des guten,
der deutschen Wirtschaft förderlichen Eindrucks im Ausland willen. So wie
heute auch um dieses Eindrucks willen von Leuten "demonstriert“ wird, die das
Verbum nicht einmal buchstabieren können. - Immer mehr Unternehmen, so
vermeldete gestern das Amt der Ausländerbeauftragten zu Berlin e-mailig,
schlössen sich unterstützend der heutigen Demonstration an! - Was wird also
statt dessen maßlos spät getan? Es wird national und international geschachert
und gefuchst. Es werden deutsch unternehmerische Rechtssicherheiten verlangt.
Damit kein Unternehmen, das von versklavten Fremdarbeitern prächtig profitiert
hat und damit oft seine Startposition im Nachkriegsdeutschland sicherte, ein
zweites Mal mit Ansprüchen belangt werden könne. Das dauert zermürbende
monate-, jahrelang bis endlich der Bundestag ein fragwürdiges, löcherreiches
und ganz und gar nicht großzügiges Gesetz beschließt. Es dauert wieder Monate,
bis das Kuratorium der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“,
höchst zweifelhaft zusammengesetzt, endlich zusammenkommt. Und erneut
verrinnen Tage, Monate. Die so arg mißbrauchten, ja die zeitweilig deutsch
entmenschten Überlebenden sterben dahin.
So wie jüngst eine polnische Frau von Mercedes-Benz in der Nähe des Frauen-KZ
Ravensbrück 1944/45 erniedrigt und ausgebeutet. Sie wollte nur den ihr
seinerzeit nicht gezahlten ordentlichen Lohn zurückhaben. Ihre Ehre und Würde.
Keine Sonderzahlungen. Die Konzernleitung von Mercedes-Benz jedoch, ansonsten
spendabel, verweigerte jegliche Zahlung mit dem Hinweis, man wisse nicht
genau, wer alles in Frage komme, man müsse überprüfen, man werde auf die
offizielle Regelung warten. Und diese offiziell nun mühsam zustandegekommene
Regelung ist so voll der bürokratischen und rechtlich unnötigen Fußangeln und
Übersetzungsschwierigkeiten, daß direkte Auszahlungen in angemessener Form
ausstehen und ausstehen und ausstehen. Bis denn Geld da sein wird, auch die
deutschen Unternehmen alle gezahlt haben, Peanuts geradezu, setzt man ihre
Schuld und ihre monetäre Kraft in vernünftige Beziehung - jedoch keine, ein
Leben lang von deutschen Handlungen gepeinigte Menschen.
In all der Düsternis ist wenigstens der jüngste, gleichfalls viel zu spät
kommende Beschluß beider Kirchen zu loben, alsbald, unbürokratisch, d.h. auch
ohne auf die Stiftung und ihre Unkunst der tödlichen Langsamkeit zu warten,
selbständig dort zu entschädigen, wo sie selbst unmittelbar gefordert waren
und sind. Die Hoffnung, die (Staats-)Kirchen könnten mehr tun, ist freilich
vergebens. Und unter all diesen Umständen, nur punktuell herausgegriffen, wird
heute regierungsamtlich von "der“ Bundesrepublik manifestiert: Wir vertreten
das neue Deutschland der strotzenden Normalität. Welche Doppelmoral, welche
Lüge, welcher Versuch, Symbole umzudrehen und sich aus der eigenen Geschichte
herauszusüßen.
Gäb´ es doch mehr Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, und solche wie die
Millionen Ausländerinnen und Ausländer, die es längst sein müßten, die die
Kraft aufbrächten, unablässig gegen die smarte doppelmoralige Bundesrepublik
und ihre Repräsentanten zu demonstrieren. Und das, wofür sie menschenrechts-
und demokratisch radikal demonstrieren, auch überall, wo irgend möglich mehr
als maulheldenhaft zu tun.
Gez.: Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr
gez.: Prof. Dr. Roland Roth
(Geschäftsführender Vorstand des Komitees)
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