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Glänzende Welt

Sachbuchpreis und 80. Geburtstag: Zwei Anlässe, Ruth Klüger zu würdigen

Von Erich Hackl *

Am 30. Oktober 2011 wird die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger 80. In Wien geboren, elfjährig von den Nazis nach Theresienstadt deportiert, dann nach Auschwitz und Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen, verschleppt, emigrierte sie 1947 in die Vereinigten Staaten. Dort promovierte sie 1967 und unterrichtete in Princeton und an der UC Berkeley. In »weiter leben. Eine Jugend« (Göttingen, 1992) schrieb sie ihre frühen, in »unterwegs verloren« (­Wien, 2008) ihre späteren Erinnerungen auf.

Am 25. Oktober wurde ihr nun der Sachbuchpreis der Buchgemeinschaft Donauland verliehen. Die "junge Welt" (jW) dokumentierte die Laudatio des österreichischen Schriftstellers Erich Hackl in ihrer Ausgabe vom 29. Oktober 2011. Wir dokumentieren sie im Folgenden nach dieser Ausgabe.



Die Entscheidung, Ruth Klüger mit dem Donauland-Sachbuchpreis auszuzeichnen, ist mir im ersten Moment paradox, im zweiten fragwürdig und im dritten völlig angemessen erschienen. Paradox, weil das Wort Sachbuch eine Literaturferne signalisiert, die an Nachschlagewerke, Schauspieler- und Feldherrenbiographien, völkerkundliche Studien, Reiseführer oder Anleitungen zum effizienten Kennenlernen, Kaloriensparen oder Geldvermehren denken läßt (an jene Art Bücher vielleicht, mit denen Ruth Klüger in ihrer Zeit als »bookmobile lady« in kalifornischen Vorortsiedlungen unterwegs war), und in diese Kategorien fällt keines ihrer Werke. Aber sie sind natürlich non fiction, keine Belletristik also, auch nicht die berühmtesten unter ihnen, »weiter leben« und »unterwegs verloren«, die man – in der ebenso kunstvollen wie scharfsinnigen Verschränkung erzählerischer und essayistischer Elemente – ungern als Sachbücher bezeichnen möchte, als blitzschnelles Genre für Leute vorzugsweise männlichen Geschlechts und mittlerer Reife, die andere Möglichkeiten des Daseins als die überlieferten, für gewinnträchtig oder sonstwie nützlich erachteten, eher selten in Betracht ziehen.

Nachbarländer

Klüger hat beide Bücher zu verschiedenen Anlässen unterschiedslos sowohl als Autobiographien wie auch als Erinnerungen bezeichnet und sich damit über eine Abmachung hinweggesetzt, die der spanische Schriftsteller José Manuel Caballero Bonald folgendermaßen begründet hat: Erinnerungen bestehen aus einer selektiven Darstellung von Vorfällen, die sich zur Lebensbeschreibung ihres Verfassers verdichten, während die Autobiographie um ein möglichst lückenloses Bild der erfahrenen Geschehnisse bemüht ist. Erinnerungen wären demnach als literarische Werke zu lesen, Autobiografien in erster Linie als Quellen der Geschichtsforschung anzusehen. Implizit ist bei dieser Trennung in ein belletristisches und ein Sachbuchgenre eine Sanktion ausgesprochen, der Klüger einigermaßen vehement widerspricht: daß nämlich die eine Art selbstbiographischen Schreibens sich Freiheiten herausnehmen darf, deren sich die andere entschlagen muß. Klüger hält dagegen, daß es im einen wie im andern Fall unredlich wäre, die Leserinnen und Leser mit Erfindungen zu konfrontieren, die als real erlebt ausgegeben werden. »Ich meine, Autobiographie hat die Funktion einer Zeugenaussage, und von den Zeugen eines Unfalls erwartet die Polizei, daß sie Gesehenes und Imaginiertes auseinanderhalten können.« Zwar räumt sie ein, daß Zeugen oft unverläßlich sind– selbst dann, wenn sie sich um Verläßlichkeit bemühen–, zwei oder mehrere Aussagen über ein und denselben Vorfall widersprüchlich ausfallen und im übrigen auch die Geschichtsschreibung längst nicht mehr den Anspruch auf Objektivität erhebt. Auch wenn Historiker bescheiden geworden seien: so doch »nicht so bescheiden, daß sie die Lust am Fabulieren als gleichwertig mit ihrem Wissen erachten«. Von daher rührt Klügers Einladung, sich die Literatur und die Historiographie als »unabhängige Länder« vorzustellen, »Nachbarländer, gewiß, mit verschiedenen Sprachen, die zwar besonders im Grenzgebiet leicht zu erlernen, sogar leicht zu verwechseln sind, die aber doch ihren eigenen Regeln folgen«. Und hart an der Grenze, aber doch auf der Seite der Geschichtsschreibung, wenngleich als ihre subjektivste Form, befinde sich die Autobiographie selbst dann, wenn sie sich, bei aller Zurückhaltung, mit der Gattungsbezeichnung Erinnerungen abfindet. »Auf der anderen Seite liegen der autobiographische Roman sowie der historische Roman und das historische Drama. Man kann zu Fuß von einem Dorf ins andere spazieren, sehr weit ist es nicht, und doch geht man von einem Land ins andere, und die Bewohner haben unterschiedliche Ausweise.«

Verschwimmende Grenzlinien

So gesehen war es also ganz in Ordnung, Ruth Klüger gerade diesen Preis anzutragen, und daß sie ihn angenommen hat, gereicht nicht nur denjenigen, die ihn vergeben, sondern auch allen bisher mit ihm Ausgezeichneten zur Ehre. Vor vier Jahren bin ich aus dem gleichen Anlaß wie dem heutigen, allerdings in anderer Funktion, auf das Spannungsverhältnis von Fakten und Fiktionen in der Literatur zu sprechen gekommen, mit dem Ruth Klüger sich immer wieder befaßt hat, und so liegt es nahe, dort fortzusetzen, wo ich damals geendet habe, nämlich mit einem Zitat der polnisch-jüdischen Schriftstellerin und Journalistin Hanna Krall. Krall hatte über die große Verantwortung räsoniert, die das Schreiben über reale Begebenheiten einem Menschen aufzwingt und zugleich dessen Freiheit einschränkt. »Der Belletristikautor hat diese Sorgen nicht. Er erschafft seine Helden selbst, ruft sie ins Leben, tut mit ihnen, was er will, und schildert sie, wie er will. Da darf es alle literarischen Schönheiten, Ausschmückungen und Verzierungen geben. Aber wenn ich ein authentisches Leben beschreibe, steht es mir nicht zu, einzugreifen. Ich bin zur dienenden Rolle verpflichtet. Zumal wenn ich über schreckliche Dinge berichte, die gezeichnet sind von Angst, Schmerz, Erniedrigung und Tod. Da ziemt sich kein Ornament, keine Schönheit. Die Form hat die allerschlichteste zu sein, aber auch in der allerschlichtesten Form muß mindestens der Rhythmus erhalten bleiben. Jedes Mal, wenn ich diesen Szenen Rhythmus gebe, habe ich ein Gefühl von Ungebührlichkeit. Natürlich kann ich mich freisprechen. Ich kann mir sagen, ich müsse so schreiben, damit die Leser das Buch zur Hand nehmen. Aber das ist eine von den Fragen, die ich mir stelle und auf die ich keine Antwort weiß: Wo ist die zulässige Grenze?«

Nicht als Schreibende, die sie doch auch ist, sondern als Leserin hat Ruth Klüger diese Frage aufgenommen, speziell in ihren Aufsatzsammlungen »Katastrophen. Über deutsche Literatur« und »Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur«, in denen sie sich wiederholt mit der Schnittstelle auseinandersetzt, an der »Geschichte zu Literatur [beziehungsweise zu Film] verarbeitet wird«. Erstaunlich an diesen Essays sind nicht nur die Einsichten, zu denen sie gelangt, die inspirierte Lektüre und hellsichtige Deutung der Werke, die ihr als Grundlage dienen, sowie die schnörkellose, abwägende, in ihrer Präzision selten schöne Sprache, sondern auch der Mut, gegen allerlei Konventionen und Vorurteile anzugehen – sich von ihnen und ihren Autoritäten jedenfalls nicht blenden zu lassen. Es ist bezeichnend für Klüger und ihr lauteres Verfahren, daß sie die von Krall aufgeworfene Frage zwar eindeutig, aber nicht ein für allemal, nur von Fall zu Fall zu beantworten weiß. »Das Gefährliche, heutzutage, sind die verschwimmenden Grenzlinien.« Das Mittel, mit dem sie diese Gefahr zu bannen sucht, ist die Erkenntnis, ob und wann ein Text Gefahr läuft, die Realität mittels Dichtung nicht zu transzendieren, sondern zum Kitsch und zur Lüge zu verrühren.

In einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem alle Erinnerung frei verfügbar zu sein scheint (frei von moralischen Erwägungen, meine ich, insofern sie wie alles andere auch als Ware gehandelt wird), ist die Essayistin Ruth Klüger ein Glücksfall: auch deshalb, weil sie als Zeitzeugin – ein Begriff, den sie wie ich als unzulänglich, wenn nicht entwürdigend empfindet–, also kraft ihrer Erfahrung als Verfolgte und Überlebende des Naziterrors mißtrauisch ist gegenüber dem hegemonialen Übereinkommen, Leben und Sterben im KZ für Projekte jedweder Art freizugeben, samt Lizenz, die Fakten zugunsten kompositorischer Erfordernisse und ideologischer Absichten zu vernachlässigen und Kritik daran mit dem Argument der pädagogischen Nutzwirkung oder der Freiheit der Kunst zu parieren. Hier erhebt Klüger Einspruch, egal ob es sich um Soazig Aarons als hochliterarisch bejubelten Roman »Klaras NEIN« oder, Jahre davor, um die populäre Fernsehserie »Holocaust« handelt, die ein breites Publikum angeblich erst auf die jüdische Katastrophe aufmerksam gemacht habe und deshalb trotz der darin betriebenen Geschichtsklitterung historisch vertretbar sei. »Da sind es dann die Literaturkritiker wie ich, die meinen, lieber weniger über den Holocaust wissen, als ihn in dieser Verhunzung aufgetischt zu bekommen.«

»Ich stamm’ aus Wien«

Klügers Kritik an mißlungenen, verzerrenden Darstellungen von Verfolgung und Widerstand ist nicht mit einem modernen Bilderverbot gleichzusetzen. Eine Tabuisierung des Holocaust hinsichtlich künstlerischer Gestaltung lehnt sie schon deshalb ab, weil sie »so etwas wie eine weitere Ghettoisierung« bedeuten würde. »Der Holocaust wird sozusagen zum Baum der Erkenntnis, als ob wir sagen wollten: Aus allen anderen Geschichten dürft ihr Kunst und Literatur machen, nur aus diesem nicht. Das ist erstens undurchführbar, zweitens ist es auch nicht gerechtfertigt. Man muß bei der künstlerischen Verarbeitung wie immer zwischen Kunst und Kitsch unterscheiden und womöglich die Entrüstung ganz beiseite lassen.« Beiseite lassen sollte man auch, meint sie, die Reduktion eines Menschen, seines Werdens und seines Wesens, auf das erfahrene Leid und dessen Ort. »Ohne Auschwitz«, meinte sie einmal, »hätte ich sehr, sehr gut auskommen können und wäre noch dieselbe.« Und die Journalistin Renata Schmidtkunz, der sie dies mitgeteilt hat, schreibt: »Ihr Satz ›Ich komm’ nicht von Auschwitz her, ich stamm’ aus Wien‹, der sagt ja auch noch mehr. Er sagt etwas darüber aus, wie Menschen, die den Holocaust oder die Schoa erlebt haben, bis heute in erster Linie damit identifiziert werden. Man nimmt ihnen auch ein Stück Identität, etwas von dem, was vorher war.« Und was nachher kam, und wovon Ruth Klüger in ihren Autobiographien erzählt, worüber sie in Vorlesungen und Aufsätzen nachgedacht hat.

Es ist nicht Thema dieser Würdigung, muß aber zumindest erwähnt werden: Wie lebensnotwendig Literatur, insbesondere Gedichte, für Ruth Klüger war und weiterhin ist. Vom Halt, den ihr Schillers »Appellballaden« im Lager gegeben haben, hat sie wiederholt berichtet. Dann sind da ihre eigenen Gedichte, die sie zeit ihres Lebens geschrieben hat, die ihre Erinnerungen an das, was unterwegs verloren gegangen ist, bewahren und verbinden und die gefälligst einmal in einem eigenen Band erscheinen sollten. Die Texte anderer, von Frauen und Männern wie Aichinger, Bachmann, Goethe, Herta Müller, Shakespeare, Stifter und immer wieder Lessing, die den Empfindungen, Wahrnehmungen der oder des Lesenden einen Resonanzkörper verschaffen, ohne den man an der eigenen Existenz und Haltung irrewerden könnte. Verse, Romane, Dramen, die nicht der Weltflucht dienlich sind, sondern eine, einen mitten in die Welt stellen. Jean Amérys Äußerung, derzufolge der lebenslange Umgang mit Büchern wesentlich ein Umgang mit Menschen sei, hat Ruth Klüger vor neun Jahren, anläßlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises, bestätigt und vertieft: Alleinsein als Thema der Literatur interessiere sie weniger als die Frage, wie Menschen miteinander auskommen. So frage sie sich beim Lesen ständig, ob »ihre Meinungen an dieser oder jener Stelle eine Rolle spielen oder ob ich mich getrost für den Augenblick nicht mit ihnen streiten muß. Man könnte sagen, das ist eine politische Art, ein Buch zu lesen, denn sie läßt die Welt nicht außer acht, die außerhalb des Werkes liegt.«

Die Welt außerhalb

Die Welt außerhalb. Dazu der Drang, sie zu verändern, für mehr Gerechtigkeit und Brot. Ich halte Ruth Klüger nicht gerade für eine Parteigängerin oder Sympathisantin radikaler, revolutionärer, antikapitalistischer Bewegungen. Ihr Feminismus ist karrierekompatibel, wie abgekoppelt von der Lebenssituation proletarischer und mittelloser Frauen. Aber in der unerbittlichen Genauigkeit ihrer Literaturbetrachtung ist sie weit davon entfernt, sozialrevolutionäre, egalitäre Bestrebungen aus Ressentiment oder Klassendünkel zurückzuweisen oder zu verlachen. Sie warnt zwar davor, Moral und Ästhetik zu verwechseln, weiß jedoch, »daß die beiden miteinander verstrickt sind und sich nicht so leicht auseinanderdividieren lassen«. Erhellend ist in diesem Zusammenhang, wie Klüger Heinrich von Kleists Drama »Die Hermannsschlacht« und seine Erzählung »Die Verlobung in St. Domingo« gelesen und gedeutet hat, nämlich nicht, wie bis dahin üblich, als rassistische Traktate. Als zentrales Problem in beiden Werken erscheint ihr »das Dilemma einer totalitären Notstands­politik«, insofern es in ihnen um persönliche Selbstaufgabe für einen höheren Zweck, nämlich die Befreiung von Fremdherrschaft, geht. »Kleist zeigt mit außerordentlicher Klarheit und Kompromißlosigkeit, daß die Strategien eines Befreiungskampfes sich dem Bereich der persönlichen Ansprüche und Gefühle entgegensetzen und darüber hinaus auch die Moral abwürgen, die solchen Privatansprüchen einen hohen Wert beimißt.« Sie zitiert aus Frantz Fanons gern vergessener Schrift »Die Verdammten dieser Erde«, die sich wie ein aktueller Kommentar zum Verhalten von Kleists haitianischem Aufrührer Congo Huango liest. Sie kritisiert Fanon auch nicht, wenn er die sogenannten bleibenden Werte des Menschengeschlechts ideologische Konstrukte nennt, die »die kolonialistische Bourgeoisie in die Köpfe der Kolonisierten verankert« habe. Wo es um die Befreiung eines Volkes von Fremdherrschaft geht, meint sie, haben Menschenrechte keine Chance. Im Befund stimmt sie demnach mit Kleist, Fanon, Guevara, auch Brecht überein, entschlägt sich aber der Wertung. Den Glauben an einen dritten Weg zwischen Herrschaft und Befreiung – einen, der tugendsam ist, ohne Gewalt auskommt und Gerechtigkeit durch milde Überzeugungsarbeit oder Appelle an den guten Willen der Mächtigen herbeiführt – hält offenbar auch Klüger für illusorisch. So versetzt uns ihr Interpretationsvermögen von Werken, die sie klassisch nennt, »weil sie uns heute noch etwas zu sagen haben«, in Unruhe und vielleicht auch in Bewegung. Oder in Sehnsucht, eingedenk Heiner Müllers Worten: »Das einzige, was Kunst kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und diese Sehnsucht ist revolutionär.«

Vielleicht gar erlöst

Und wieder ein Blick auf die Welt, außerhalb auch der politischen Literatur und deren Deutung in Klügers Sachbüchern. Ich erinnere an eine Stelle aus dem zweiten Teil der Autobiographie, die sich ebenso in »Still Alive« findet, der auf Englisch abgefaßten, für US-amerikanische Leserinnen bestimmten Fassung von »weiter leben«. Klüger berichtet hier von der letzten Lebenszeit ihrer Mutter, unsentimental, wie es ihre Art ist, sachlich im Ton, scharf in der Beobachtung, verhalten in der Trauer und mit einem Schuß Übermut, oder Zuversicht, befördert durch die Gegenwart der kleinen Isabela, Ruths Enkeltochter, der die Urgroßmutter Alma Hirschel gegen Ende ihres 97jährigen Lebens »ein Mensch gewesen (ist), der in vieler Hinsicht so wie sie fühlte und dachte«. Leiser inniger Nachruf in der Beschreibung eines späten Fotos: »Auf der einen Seite das Kind, das noch das Denken lernt, auf der anderen die Frau, die einmal einen halbwüchsigen Sohn an anonyme Mörder, die man nicht zur Rechenschaft ziehen kann, verlor und die das Denken weitgehend verlernt hat. Mehr als neunzig Jahre lagen zwischen ihnen, doch wann immer sie beisammen waren, kichernd und schwatzend, trafen sie sich in einer vermenschlichten Gegenwart, die stillstand für sie, wie in Bernstein bewahrt, von Zeit und Raum gelöst, vielleicht gar erlöst – wer weiß?«

Es gäbe noch vieles, es bleibt mir nichts mehr zu sagen über Ruth Klügers Sachbuchkunst. Nichts außer dem Wunsch, es möge ihr häufig noch so ergehen wie während oder nach der Lektüre eines Romans der Schweizer Autorin Gabrielle Alioth, »Der prüfende Blick«: Nichts Böses geschieht darin, hat sie geschrieben, »und die Menschen sind höchstens abwegig oder lächerlich. Die Welt glänzt, es läßt sich leben.«

* Erich Hackl ist Autor zahlreicher Romane, Erzählungen sowie Kurzgeschichten und Übersetzer; von ihm erschien im Züricher Diogenes Verlag unter anderem »Auroras Anlaß« (1987), »Abschied von Sidonie« (1989), »Die Hochzeit von Auschwitz. Eine Begebenheit« (2002) und zuletzt »Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte« (2010)

Aus: junge Welt, 29. Oktober 2011


»Diese Verarmung des Lebens«

Ich hab Theresienstadt irgendwie geliebt, und die neunzehn oder zwanzig Monate, die ich dort verbrachte, haben ein soziales Wesen aus mir gemacht, die ich vorher in mich versponnen, abgeschottet, verklemmt und vielleicht auch unansprechbar geworden war. In Wien hatte ich Ticks, Symptome von Zwangsneurosen, die überwand ich in Theresienstadt, durch Kontakte, Freundschaften und Gespräche. Es ist erstaunlich, wie kreativ gesprächig die Menschen werden, wenn sie nur das Gespräch als Ablenkung aus einer Not, die allerdings noch erträglich sein muß, haben. Sie hat doch recht gehabt, die Frau meines Kollegen, Theresienstadt war nicht so schlimm. Aber wie kommt sie dazu, so mit mir zu reden, wenn doch alles, was von den Deutschen kam, ein einziges Elend war, und das Gute nur von uns, den Gefangenen? Deren Stimmen mir noch immer im Ohr hängen, totschlagen mußte man sie, um sie zum Schweigen zu bringen, und gesegnet sei ihr Angedenken. Das meiste, was ich über soziales Verhalten weiß (und es ist gar nicht so wenig, ich bin ein verläßlicher Mensch geworden), habe ich von den jungen Sozialisten und Zionisten gelernt, die in Theresienstadt die Kinder hüteten – bis sie sie ausliefern mußten und selbst ausgeliefert wurden. Da war jede Menge an Mangel und keine Grenze der Beschränkung. Wenn das gut ist. Gut war nur, was die Juden daraus zu machen verstanden, wie sie diese Fläche von weniger als einem Quadratkilometer tschechischer Erde mit ihren Stimmen, ihrem Intellekt, ihrer Freude am Dialog, am Spiel, am Witz überfluteten. Was gut war, ging von unserer Selbstbehauptung aus. So daß ich zum ersten Mal erfuhr, was dieses Volk sein konnte, zu dem ich mich zählen durfte, mußte, wollte. Wenn ich mir heute die unbeantwortbare Frage vorlege, wieso und inwiefern ich Ungläubige überhaupt Jüdin bin, dann ist von mehreren richtigen Antworten eine: »Das kommt von Theresienstadt, dort bin ich es erst geworden«.

Ich hab Theresienstadt gehaßt, ein Sumpf, eine Jauche, wo man die Arme nicht ausstrecken konnte, ohne auf andere Menschen zu stoßen. Ein Ameisenhaufen, der zertreten wurde. Wenn mir jemand vorgestellt wird, der oder die auch in Theresienstadt gewesen ist, schäme ich mich dieser Gemeinsamkeit, versichere dem anderen gleich, daß ich bei Kriegsende nicht mehr dort war, und brech das Gespräch so rasch wie möglich ab, um einem etwaigen Angebot von Zusammengehörigkeit vorzubeugen. Wer will schon Ameise gewesen sein? Nicht einmal im Klo war man allein, denn draußen war immer wer, der dringend mußte. In einem großen Stall leben. Die Machthaber, die manchmal in ihren unheimlichen Uniformen auftauchten, um zu überprüfen, ob das Vieh nicht am Strick zerrte. Da kam man sich wie der letzte Dreck vor, das war man auch. Einem ohnmächtigen Volk anzugehören, das abwechselnd arrogant und dann wieder selbstkritisch bis an die Grenze des Selbsthasses war. Keine Sprache zu beherrschen als die der Verächter dieses Volkes. Keine Gelegenheit haben, eine andere zu lernen. Nichts lernen, nichts unternehmen dürfen. Diese Verarmung des Lebens.


Ruth Klüger: weiter leben - Eine Jugend. Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 286 Seiten, 14,90 Euro * mit mp3-Hörbuch, komplett gelesen von der Autorin.




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