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Rechtsradikalismus - ein Problem des Internets?

Politik und Teile der Öffentlichkeit haben im Zusammenhang mit der erschreckend zunehmenden rechtsradikalen Gewalt und ihrer Verherrlichung in einer großen Zahl von Nazi-Webseiten noch einmal das Internet entdeckt. Die hektischen Aktivitäten, mit denen Innen- und Justizministerium sich der neuen Medien im Augenblick annehmen, können leicht dazu führen, dass vom eigentlichen Problem abgelenkt wird: dem Problem nämlich, dass der Rechtsradikalismus nicht ein Produkt der neuen Medien, sondern der Gesellschaft ist. Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 10. August 2000 fand sich dazu ein lesenswerter Essay, den wir nachfolgend dokumentieren. - Es sind häufig die Feuilletons der großen Zeitungen, die auch zu tagespolitischen Auseinandersetzungen mehr zu sagen haben als die politischen Teile.

Links, wo die Rechtsextremen sitzen

Geht plötzlich alle Gewalt vom Internet aus – oder haben unsere Politiker da etwas missverstanden?

Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass die Welt eine Kugel ist, zumindest ungefähr. Die Gesellschaft allerdings stellen sich die Menschen gerne noch als Scheibe vor: Dass sich die Mehrheit dabei in der Mitte versammelt, ist gar nicht so neu, wie es die Parteien seit ein paar Jahren predigen. Denn an den Rändern der Gesellschaft siedelt der Wahnsinn, und deshalb muss man nicht nur seine Kinder davor warnen, sich zu weit von zu Hause zu entfernen, sondern auch alles tun, damit die Bedrohung nicht ins Zentrum vordringt.

Würde man sich auch die Gesellschaft als Kugel vorstellen, wäre es schon einfacher zu erkennen, dass der ganze Schmutz, der sich an den Rändern ansammelt, nicht von Außen angeschwemmt wird, sondern seine Wurzeln womöglich in ihrem Inneren hat. Stellt man sich die Gesellschaft aber als Netz vor, was ja nun auch schon ein paar Menschen seit ein paar Jahren predigen, müsste man merken, dass der Wahnsinn kaum zu orten ist. Er durchzieht die Gesellschaft. Man trifft ihn auf allen Kanälen.

Den Gedanken, dass die Feinde der Demokratie an deren Rändern lauern, sollte man allein schon deshalb aufgeben, weil die Warnung vor der Gefahr von Außen ganz grässliche Formen annehmen kann. Es wäre besser, die Rhetorik der Ausgrenzung denen zu überlassen, die selbst innerlich verwirrt sind. Wer glaubt, es reiche, die so genannten Extremisten wegzusperren, wird schnell feststellen, dass man damit so endlos beschäftigt ist, wie ein Skinhead mit dem Haare schneiden. Und wer öffentlich auf die explosionsartige Vermehrung rassistischer Internet-Seiten hinweist, trägt damit vermutlich gerade zu dieser Vermehrung nicht unwesentlich bei.

Das Außen also, es wird von innen konstruiert, was vor allem dadurch funktioniert, dass man etwas größer macht, als es ist. Knapp drei Millionen Webseiten sind in Deutschland registriert, rund 500 davon haben nach der derzeit höchsten Schätzung rechtsextremistische Inhalte. Der viel zitierte „beunruhigend sprunghafte“ Anstieg entspricht dabei in etwa der Quote des beunruhigend sprunghaften Anstiegs von Internet-Seiten insgesamt. Natürlich kann man diese Zahlen nicht einfach hinnehmen, als würden sie die Popularität eines neuen Trendsports dokumentieren. Die „Hass-Seiten“ sind ein wichtiges Indiz für die Potenz faschistischen Gedankenguts; sie sind ein erschreckender Beleg für die Vielfalt des Rassismus; sie sind wahrscheinlich leider sogar ein effektives Mittel, hetzerische Parolen zu verbreiten; aber sie sind nicht der Ursprung fremdenfeindlicher Gewalt. Und sie lassen sich nicht durch Verbote aus der Welt schaffen.

Es ist schon abenteuerlich, wenn Menschen, die keinen Schimmer von den Strukturen eines Netzwerks haben, geschweige denn von denen des Internets, auf einmal Initiativen gegen die „Verbreitung von Hass im Internet“ gründen. Zwar kommen die meisten Warnrufe vor den braunen Seiten des Netzes inzwischen nur noch selten ohne die Floskel „keine Zensur“ aus – das Recht auf Meinungsfreiheit soll bestehen bleiben. Das ist nett von den Netzwächtern, nur der Meinungsfreiheit ist es ziemlich egal. Die setzt sich auch ohne das Einverständnis des örtlichen Verfassungsschutzes durch. Beliebt ist dagegen vor allem der Ruf nach internationaler Zusammenarbeit und nach einem härteren Vorgehen ausländischer Provider, als müssten in erster Linie diese das Problem lösen. Und auch trotz des Wunsches nach einem globalen Wertekonsens wird das amerikanische Volk seine Verfassung nicht so schnell ändern.

Internet für alle!

Zur zwischenzeitlichen Heilung der Symptome empfiehlt die Internetexpertin Hertha Däubler-Gmelin unter anderem auch den Einsatz von Filtersoftware, vor allem an Schulen. Am liebsten würde sie die Filter vermutlich gleich in die Kinder selbst installieren, damit diese ihr Leben lang von dem Anblick von Hakenkreuzen verschont bleiben. Es würde ihnen nichts helfen: Sie müssten schon taub und blind sein, um den Rassismus in diesem Land zu übersehen. Und wenn Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, wirklich glaubt, dass Kinder aus Langeweile auf die Naziseiten surfen, dann tun sie es wahrscheinlich erst recht, wenn sie ihr Lehrer davor warnt: aus Neugier. Statt den Jugendlichen die Augen zuzuhalten, sollte man sie ihnen öffnen; wenn man die Kinder möglichst viel und unkontrolliert surfen lässt, werden sie wahrscheinlich eher zu Medienexperten als zu Nazis. Solange die Hüter der Moral auf diese Weise die richtigen Werte predigen, wird es immer Menschen geben, die an die falschen glauben.

Dass sich Ratlosigkeit breit macht angesichts der ungeheuren Gewalttaten, zu denen die Bürger einer Demokratie fähig sind, lässt sich durchaus verstehen. Was aber an der Hilflosigkeit derjenigen irritiert, die das Internet als neuen Hort faschistischer Gedanken entdeckt haben, ist das verzweifelte Interesse am Medium: als wäre es wichtiger, den Ausländerhass aus dem Netz zu vertreiben, als aus der Gesellschaft. Wenn sich die schlägernden Neonazis als „Vollstrecker eines unartikulierten Volkswillens“ fühlen, dann sind es weniger die Webseiten Gleichgesinnter, die ihnen dieses Gefühl vermitteln. Es liegt schon eher an den Eindrücken, die sie auch aus den klassischen Medien gewinnen können, wenn sie vom großen Zuspruch für Unterschriftenaktionen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft berichten, von „Kindern statt Indern“ oder von den unglaublichen Luxusgütern, die sich angeblich in den Mülltonnen der Asylbewerberheime finden. Statt auf die Bekämpfung der „Verbreitung von Hass im Internet“ könnte man sich einfach einmal auf die Bekämpfung der Verbreitung von Hass konzentrieren.

Natürlich ändern neue Medien die Bedingungen. Trotzdem ist es verwunderlich, mit welcher Energie derzeit Politiker die Rolle des Internets für den Rechtsruck im Land betonen. Fast könnte man meinen, dass sie schnell noch beim Hohepriester der Medientheorie nachgelesen – und ihn falsch verstanden haben. Marshall McLuhans These, das Medium sei die Botschaft, die gerade im Zusammenhang mit dem Internet immer wieder hervorgekramt wird, eignet sich zur Erklärung der Renaissance des Rassismus denkbar schlecht. Denn wenn das Medium die Botschaft ist, dann heißt die Botschaft des Internets gewiss nicht: „Ausländer raus!“

Für diejenigen allerdings, die mit dem Internet eine neue Ära der friedlichen Kommunikation beginnen sahen, weil die Unkontrollierbarkeit des Diskurses dem von oben verordneten Denken ein Ende setzen würde; für diejenigen, die prophezeiten, dass vernetzte Menschen auch ihre Abhängigkeit voneinander erkennen würden; für diejenigen, die hofften, dass der surfende und suchende User neue Formen der Identität finden würde, die alles sein konnten außer national; oder dass rhizomatische Strukturen die Wurzeln und damit auch die Radikalität der Wahrheiten ablösen würden: für all die ist die Netzkompatibilität der alten Lügen eine böse Enttäuschung. Die Illusion, dass uns das Internet zu besseren Menschen machen könnte, wird von denen zerstört, die schon immer glaubten, welche zu sein.

Dass die Faschisten sich den neuen technischen Möglichkeiten verweigern, weil sie lieber mit Baseballschlägern hantieren als mit der Maus, oder weil sie lieber saufen als chatten: Das hatte nicht wirklich jemand erwartet. Genauso war es vorherzusehen, dass auch die Dümmsten unter ihnen irgendwann lernen würden, wie man eine E-Mail verschickt. Das Desillusionierende an der Präsenz der Nazis im Netz ist jedoch die Art und Weise, wie sie die Slogans der Cyber-Utopisten übernehmen: „Vernetzt euch, bildet Communities, durchbrecht das Monopol der Medien“. Man kann wohl kaum hoffen, dass die hohlköpfigen Neonazis ihre nationalistischen Ideen angesichts der Einsicht in die Globalität des Mediums überdenken, selbst dann nicht, wenn die meisten ihrer „Heimatseiten“ auf ausländischen Rechnern liegen.

Wahrscheinlich ist das Medium strukturell schon eher anti-hierarchisch, offen und völkerverbindend – aber was hilft das schon, wenn die Menschen mit dieser Struktur nichts anfangen können? Das Internet existiert nicht im luftleeren Raum. Andere Medien, andere Systeme und andere Gesetze prägen seine Strukturen mit. Zwar ist der Hass gewissermaßen ein virtuelles Phänomen. Aber er spukt eher in Köpfen herum als auf Websites.

HARALD STAUN


Aus: Süddeutsche Zeitung, 10. August 2000

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