Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Zum Sterben geboren?

1. Dezember 1936: Ein Gesetz für Jugendliche auf dem Weg zum Krieg

Von Manfred Weißbecker *

Was mag wohl in den Köpfen jener Jungen vorgegangen sein, die – sicher in der Hoffnung auf ein attraktives Freizeitangebot – 1934 in das erste große Zeltlager der Hitlerjugend (HJ) bei Aidling/Riegsee im bayerischen Oberland einzogen, dort aber mit dem Spruch empfangen wurden: »Wir sind zum Sterben für Deutschland geboren«? Möglicherweise hatten sie schon erfahren, sei es von den Eltern oder in der Schule, wie ihnen vor dem Ersten Weltkrieg und in diesem der Gedanke eingetrichtert worden war, es sei doch süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben. Oder sie kannten jene Postkarten, die Soldaten in die Heimat schickten mit der Aufschrift: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht!« Vielleicht erinnerten sie sich an die oftmals martialisch gestalteten Denkmale, welche den Toten der Kriege für ihren »Opfertod im Dienste der Heimat« dankten und ein heldisches Sterben priesen. Und sicher war manchem Jugendlichen auch schon die Parole der NSDAP begegnet, die da ebenso menschenverachtend wie anmaßend lautete: »Du bist nichts, dein Volk ist alles«.

Nahtlos hatten die deutschen Faschisten daran anknüpfen können, als sie sich auf den Weg machten, Deutschland zu regieren und in einen neuen Krieg zu treiben. Auch deshalb benötigte jenes Gesetz, das vor 85 Jahren, am 1.12.1936, bekanntgegeben worden ist und das einen gravierenden Einschnitt in alle Bereiche der bis dahin in der bürgerlichen Gesellschaft betriebenen Jugendpolitik darstellte, nur wenige Sätze. Es hieß, nunmehr sei die »gesamte deutsche Jugend« in der Hitlerjugend zusammengefaßt, und sie sei »außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen«. Der dritte Paragraph bestimmte, daß der Reichsjugendführer der NSDAP fortan als »Jugendführer des Deutschen Reiches« gelte, damit das Amt einer Obersten Reichsbehörde führe und Hitler unmittelbar unterstellt sei. Das Gesetz beruhte einerseits auf den organisatorischen Ergebnissen in der zehnjährigen Geschichte der HJ und markierte andererseits mit wenigen Sätzen, wohin die Reise gehen sollte.

»Gleichschaltung«

Wozu die NSDAP Jugendliche gewinnen, organisieren und im Interesse großmachtpolitischer Ambitionen der Herrschenden mißbrauchen wollte, hatte sie von Anfang an erkennen lassen. Ihre erste Jugendformation – der Jugendbund der NSDAP – sah sich der SA, den paramilitärischen Sturmtrupps der Nazis, zugeordnet. Das galt erst recht für die Jugendgruppen, die nach der Wiedergründung der Partei in den Jahren nach 1925/26 entstanden, zunächst als Großdeutsche Jugendbewegung, dann als »Hitlerjugend, Bund deutscher Arbeiterjugend«. Als 1931 Baldur von Schirach Reichsjugendführer der NSDAP im Range eines SA-Gruppenführers wurde, standen SA und HJ in ihren Funktionen weitgehend auf einer Ebene. Bald gab es intensive Bemühungen um eine eigenständige faschistische Jugendorganisation. 1932 wollte man die HJ nicht unter das zeitweilig von der Brüning-Regierung verhängte Verbot von SA und SS fallen lassen. Auch galt es, den enormen Zuwachs an Mitgliedern zu bewältigen, autoritäre Strukturen zu schaffen und durchzusetzen. Nach dem 30. Januar 1933 und der direkten Ausschaltung linker Jugendverbände setzte sich dieser Prozeß fort, direkt gefördert durch die als »Gleichschaltung« bezeichnete Auflösung oder Übernahme anderer Jugendverbände.

Als erstes, am 5. April 1933, usurpierte die HJ handstreichartig den Reichs­ausschuß deutscher Jugendverbände, jene fünf bis sechs Millionen Mitglieder umfassende Dachorganisation, der die HJ bis Ende 1932 nicht einmal angehört hatte. Der letzte Chef des Reichsausschusses, Generalmajor a.D. Ludwig Vogt, trat sein Amt eigenmächtig an Schirach ab und stellte sich selbst in dessen Dienst. Ersterer hatte nichts Eiligeres zu tun, als die sozialistischen und jüdischen Verbände aus dem Reichsausschuß auszuschließen, da es notwendig sei, »den Kampf gegen marxistisch-jüdischen Geist bereits in der Jugend durchzuführen«. Die Bismarckjugend, die Hindenburgjugend und der Scharnhorstbund – alle bislang den konservativen Parteien verbunden – traten nahezu geschlossen der HJ bei. Aufgelöst wurde der Großdeutsche Jugendbund, zu dem sich zahlreiche bündische Jugendliche zusammengeschlossen hatten. Strukturiert nach Altersgruppen und Geschlecht, erfaßte die HJ im Deutschen Jungvolk (DJ) die 10- bis 14jährigen Jungen und die eigentliche HJ die 14- bis 18jährigen Jungen, ähnlich die Mädchen im Jungmädelbund (JM) und dem Bund Deutscher Mädel (BDM).

Schirach formulierte in seinem 1934 erschienenem Buch über die HJ: »Wie die Partei nunmehr die einzige Partei ist, so muß die HJ die einzige Jugendorganisation sein.« Die einheitliche Organisation – sie war gedacht als Mittel zum Zweck: Alle Jugendlichen sollten in einen straff geführten, zentral gelenkten und zu jeder Zeit für jedes Ziel einsetzbaren Verband integriert sein, »nationalsozialistisch« denken und entsprechend handeln. Bis Ende 1934 hatten die Nazis in der HJ mit ihren 3,5 Millionen Mitgliedern nur jeden zweiten Jugendlichen erfassen können, und 1935 verlangsamte sich das Tempo des Mitgliederzuwachses. Es glich dennoch – angesichts der Repressionen gegen jene, die sich aus politischen oder konfessionellen Motiven der HJ entzogen – einer Farce, daß von der Gültigkeit des Prinzips der Freiwilligkeit gesprochen wurde – irreführend und demagogisch.

Zukunftspflichten

Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, der beginnende Aufbau eines Massenheeres und die ersten den Krieg vorbereitenden Schritte des braunen Regimes boten die Basis für das Gesetz vom 1. Dezember 1936. Das Ziel bestand darin, in kürzester Zeit eine schlagkräftige Wehrmacht zu schaffen. Insbesondere sollten alle Jungen bereits im Vorfeld ihrer Rekrutierung auf den Wehrdienst vorbereitet und für diesen befähigt werden. Ihre vollständige organisatorische Erfassung, ihre körperliche Ertüchtigung und eine entsprechende ideologische Beeinflussung standen im Vordergrund. Dem Gesetzestext waren zwei dies klar erhellende Sätze vorangestellt: »Von der Jugend hängt die Zukunft des deutschen Volkes ab. Die gesamte deutsche Jugend muß deshalb auf ihre künftigen Pflichten vorbereitet werden.« Von ihren Rechten gab es keine Spur mehr. Dazu paßt, daß im Dezember 1936 auch eine erste große Disziplinarordnung der HJ erlassen wurde – ihr Ziel: die »Reinhaltung von unerziehbaren Elementen« und Ausschluß bei »Befehlsverweigerung«. 1940 wurde sie durch eine »Kriegsdienststrafordnung« abgelöst.

Es ging eben hauptsächlich nicht um die Förderung jugendlichen Spiel­dranges und interessanten Lagerlebens, auch schlechthin nicht um Fahrten und Sport, wie dies damals in irreführend-verklärender Absicht propagiert oder nach 1945 oftmals aus Gründen einer Selbstrechtfertigung herausgestellt worden ist. Dem offiziell verkündeten Motto »Jugend wird von Jugend geführt« lag nur insofern ein realistischer Gehalt zugrunde, als in den folgenden Jahren von den Oberen der Partei sehr viel Wert auf die Herausbildung einer jungen Garde von Führungskräften gelegt worden ist; zeitweilig erhielt diese sogar den Namen Stamm-HJ. Besonders in ihr wurden Gefolgschafts­treue, Pflichterfüllung und Willensstärke vorausgesetzt und körperliche Leistungsfähigkeit verlangt. Für die seit langem geplante und seit Mitte der 30er Jahre aktiv betriebene Vergrößerung der Wehrmacht benötigte man auch Nachwuchs an Offizieren, die im Sinne des Regimes zu funktionieren fähig sein sollten.

Diese Zielsetzungen schlugen sich auch in der Schaffung einer Vielzahl von Sondereinheiten der HJ nieder. Es gab u.a. die Nachrichten-, Marine-, Flieger- und Motor-HJ. Hinzu traten HJ-Streifendienste, die besondere Befugnisse und mit der Sicherheitspolizei gemeinsam zu wirken hatten. Die 14- bis 18jährigen Jungen wurden zielstrebig einer Schießausbildung unterworfen, alle hatten Geländedienst oder Pflichtarbeit zu leisten. Auch in dieser Hinsicht bedeutete das Gesetz den Start zum totalen Mißbrauch jener 8,7 Millionen Mitglieder, die 1939 in der HJ erfaßt waren (98,1 Prozent aller Jugendlichen) für ein einziges Ziel: Vorherrschaft der Herren dieses Staates in der Welt, Eroberung neuen »Lebensraumes«, Unterjochung und Vernichtung anderer Völker. Ohne Krieg und ohne zum Sterben bereite Soldaten konnte es nicht erreicht werden.

* Aus: junge Welt, 26. November 2011

Quellentext: Die vier Paragraphen des Gesetzes vom 1.12.1936 lauteten:

  • »§1. Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefaßt.
  • §2. Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.
  • §3. Die Aufgabe der Erziehung der gesamten deutschen Jugend in der Hitlerjugend wird dem Reichsjugendführer der NSDAP übertragen. Er ist damit ›Jugendführer des Deutschen Reichs‹. Er hat die Stellung einer Obersten Reichsbehörde mit dem Sitz in Berlin und ist dem Führer und Reichskanzler unmittelbar unterstellt.
  • §4. Die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Rechtsverordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften erläßt der Führer und Reichskanzler.«



Zurück zur Seite "Rassismus, Faschismus"

Zur Seite "Kriegsgeschichte"

Zurück zur Homepage