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Hamburger Wetter

Mit Wasserwerfern, Reizgas und Pferden räumte die Polizei Antifaschisten von der Straße

Von Susann Witt-Stahl, Hamburg *

Wegen massiver Proteste konnten Nazis in Hamburg nur eine verkürzte Route laufen.

Glasscherben, zerfetzte Plastikplanen und Sitzkissen liegen auf der Straße. Am Rand kauern Menschen, denen Sanitäter die Augen ausspülen müssen. An Pfefferspray hatten die Einsatzkräfte während ihres Vorgehens gegen die Blockierer des Naziaufmarsches in Hamburg nicht gespart. Minuten zuvor war die Lage an der Kreuzung Hasselbrookstraße/Marienthalerstraße, mitten im Wohngebiet des traditionellen Arbeiterbezirks Wandsbek, aus dem Ruder gelaufen. Mehr als 700 Menschen hatten die Fahrbahn besetzt, um die Naziikonen Thomas Wulff und Christian Worch mit ihrer Gefolgschaft am Marschieren zu hindern.

Als der von Landsknechtstrommlern angeführte Zug sich näherte, begannen Polizisten, die sich friedlich verhaltenden Gegendemonstranten brutal von der Straße zu zerren. Dabei wendeten sie schmerzhafte Griffe an. Noch mehr eskalierte die Lage, als autonome Gruppen Feuerwerkskörper, Steine und Flaschen warfen - teilweise in die eigenen Reihen und in die Sitzblockade. Die Polizei rückte mit Wasserwerfern vor.

Ähnliche Szenarien ereigneten sich auch in benachbarten Straßen. Es wurden nicht nur Mülltonnen, sondern auch zwei Anwohnerfahrzeuge und ein Polizeiwagen in Brand gesetzt. Beamte zu Pferd machten Jagd auf Nazigegner, denen es gelungen war, die Polizeiketten zu umgehen. An einem Park lösten sich kleine Nazitrupps kurzzeitig von ihrer Demo und griffen Antifaschisten an. Die braunen Kameraden, die in ihren Redebeiträgen mit gewohnter Larmoyanz einen »Völkermord« an den Deutschen herbeihalluzinierten, waren sichtlich frustriert: Nicht nur lag die Teilnehmerzahl an ihrem Aufmarsch mit knapp 500 Personen unter ihren Erwartungen - sie konnten sich auch erst mit einer Verzögerung von drei Stunden in Bewegung setzen und mussten eine verkürzte Route nehmen. Denn der Blockadering rund um ihren Versammlungsort funktionierte gut. Etwa 5000 Antifaschisten hatten sich nach Angaben des Hamburger Bündnis gegen Rechts (HBgR) daran beteiligt.

»Die Polizei hat die Ersatzroute der Nazis durchgeknüppelt, statt rechtliche Möglichkeiten für ein Verbot der Nazidemo zu nutzen«, sagte Olaf Harms, Sprecher des HBgR. Ebenso Anlass für massive Kritik bot eine andere polizeiliche Maßnahme: Bereits am Vormittag hatten die Ordnungshüter in Wandsbek rund 400 Antifas umzingelt und stundenlang festgehalten ohne Wasser und die Möglichkeit, eine Toilette aufzusuchen - ein »menschenunwürdiges« Vorgehen, so Harms, das an den »Hamburger Kessel« von 1986 erinnere. Einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen auch die Augenreizungen, Schürf- und Platzwunden, vereinzelt auch Kopfverletzungen, die viele Nazi-gegner erlitten haben. Nach Angaben der Polizei kamen von den 4400 Beamten aus mehreren Bundesländern, die im Einsatz waren, 38 zu Schaden.

Trotz der Ausschreitungen zog das HBgR eine positive Bilanz, weil es gelungen war, viele Menschen gegen den braunen Mob zu mobilisieren und sein Vorhaben weitgehend zu vereiteln.

Auch in der Hamburger Innenstadt verliefen die Antinazi-Proteste erfolgreich: Morgens hatten sich rund 5000 Bürger am Gerhart-Hauptmann-Platz für eine Demonstration versammelt, die am ehemaligen Gestapo-Gebäude an der Stadthausbrücke vorbei zum Gänsemarkt zog. Dort hielt die LINKE-Bürgerschaftsfraktion eine öffentliche Sitzung ab. Die Wartezeit vertrieben sich die Anwesenden mit dem Aufblasen roter »No Nazis!«-Ballons. »Niemand wird diese Stadt, niemand wird dieses Land verlassen - weil wir hier zuhause sind!«, sagte die LINKE-Abgeordnete Cansu Özdemir. Ihr Parlamentskollege Mehmet Yildiz rief dazu auf, »den Faschisten deutlich zu machen, dass sie keinen Platz in dieser Stadt haben«.

300 Meter entfernt, am Rathaus, haben Senat und Bürgerschaft zur Kundgebung »Hamburg bekennt Farbe« geladen. Gut 10 000 Menschen sind gekommen. Um halb zwölf sprach Bürgermeister Olaf Scholz (SPD). Er bekräftigte seine Einbürgerungsinitiative und wendete sich an die ungebetenen Gäste: »Wir achten das Demonstrationsrecht, aber ich sage auch: Wir verachten die Rechtsradikalen, die heute in unserer Stadt sind.«

* Aus: neues deutschland, Montag 4. Juni 2012


Neonazis Weg versperrt **

Barrikaden, Blockaden, Bürgerfest – in allen erdenklichen Formen protestierten am Samstag fast 20000 Menschen gegen einen Aufmarsch von rund 500 Neonazis in Hamburg-Wandsbek. Während es entlang der Route zu stundenlangen Straßenschlachten kam, waren ab zwölf Uhr mehr als 10000 Bürger zu einer friedlichen Kundgebung von Senat und Bürgerschaft auf dem Rathausmarkt zusammengekommen.

Das »Hamburger Bündnis gegen Rechts« (HBgR) hatte eine Demonstration und mehrere Blockaden angemeldet. Am Aufzug des Bündnisses ab 9.30 Uhr nahmen rund 6000 Menschen teil. Tausende von ihnen, darunter viele Gewerkschafter, bewegten sich nach der Abschlußkundgebung zu Sammelpunkten in den Stadteilen Wandsbek und Eilbek. Nachdem das Verwaltungsgericht den Neonaziaufzug für die Innenstadt untersagt hatte, meldete das HBgR seine Blockaden entlang der neuen Strecke an.

Ab neun Uhr begannen Gegendemonstranten, von Osten und Westen auf die Naziroute vorzudringen; mehrere tausend Menschen orientierten sich dabei am Aktionskonsens des HBgR. Demnach sollte es Menschenblockaden geben, von denen keine Eskalation ausgeht. Ab zehn Uhr hatte ein autonomes antifaschistisches Bündnis zu einer eigenen Kundgebung in Barmbek-Süd nördlich der Route aufgerufen dort trafen bis zu 1000 Demonstranten ein.

Die Autonomen sammelten sich zu einem Durchbruchsversuch über eine Brücke des Eilbekkanals. Dieser scheiterte jedoch, rund 500 von ihnen wurden für mehrere Stunden eingekesselt. Während die Polizei mit dem Kessel beschäftigt war, rückten mehrere tausend Jugendliche über die übrigen Kanalbrücken bis zur Route vor und errichteten an Dutzenden Stellen brennende Barrikaden.

Bereits gegen elf Uhr drangen die Sitzblockierer drangen auf mehrere Kreuzungen der Strecke vor. Obwohl sie weiter auf Deeskalation setzten, wurden sie von Polizisten mit Pfefferspray und mit Wasserwerfern attackiert. Ein Polizeisprecher sagte auf jW-Nachfrage: »Den angekündigten zivilen Ungehorsam gab es nicht, wir wurden von den Blockaden aus angegriffen.« Man habe die Beteiligten aufgefordert, das Gebiet zu verlassen. Bündnis-Sprecher Olaf Harms bestritt die Darstellung gegenüber junge Welt vehement: »Die Polizei ging unterschiedslos und brutal vor.«

Harms beklagte zudem, daß die Einsatzleitung den Neonaziaufmarsch nicht abgeblasen, sondern statt dessen eine neue Route vorgegeben habe. Dabei sei es zu Angriffen von Neofaschisten auf Gegendemonstranten gekommen: »Die Einsatzleitung muß sich dafür verantworten.« Laut Polizei gab es zwar Flaschenwürfe aber kein »direktes Aufeinandertreffen«. Auch der neue Marschweg wurde nach wenigen hundert Metern blockiert. Nach Poizeiangaben gab es 80 in Gewahrsam- bzw. Festnahmen.

** Aus: junge Welt, Montag 4. Juni 2012


Blockade gescheitert

Hunderte versuchten am Samstag, die Marschroute der Neonazis in Hamburg zu sperren. Doch die Polizei hielt ihnen den Weg frei

Von Kristian Stemmler ***


Das Sonnenstudio an der Wandsbeker Chaussee macht heute das Geschäfts seines Lebens. 50 Cent für jeden Gang zur Toilette, und die Leute stehen Schlange. Draußen vor der Tür, auf einer breiten Hamburger Ausfallstraße, findet eine von mehreren Kundgebungen des »Hamburger Bündnis gegen rechts« statt. Schon vormittags haben sich Hunderte Gegendemonstranten versammelt. Ziel: von hier aus auf die Neonaziroute kommen und blockieren. Mit dabei, eine Gruppe von Mitgliedern der Partei Die Linke aus dem Landkreis Harburg, südlich von Hamburg, von der Antifa und befreundeten Gruppierungen, die Mehrzahl junge Erwachsene.

Noch herrscht entspannte Stimmung auf der Kreuzung. Die Leute sitzen auf dem Asphalt in der Sonne, aus dem Lautsprecherwagen wummern die Beats. Gegen zehn aber eskaliert die Lage. Die Demonstranten dringen gegen die Polizeikette in einer Nebenstraße vor. Es kommt zu Rangeleien, die Beamten setzten Schlagstöcke und Pfefferspray ein. Zwei Demonstranten bluten heftig am Kopf, werden von Sanitätern versorgt, etlichen tränen die Augen vom Pfefferspray.

Dann der Rückzug auf die Kreuzung, die Gruppe stärkt sich mit Keksen, Schokoriegeln und Saft. Der Tag wird lang. Über den Lautsprecherwagen werden alle auf dem laufenden gehalten: An einem anderen Kundgebungsort seien »Genossen der Antifa« von der Polizei eingekesselt worden. Buhrufe und Pfiffe.

Ein Großteil der Demonstranten setzt sich schließlich in Bewegung. Zwischen Wohnhäusern gelangen die Demonstranten durch Gänge ins Wohngebiet von Eilbek. Keine Polizei weit und breit. Dirigiert von einem Mann mit Megaphon erreicht die Menge eine Straßenkreuzung auf der geplanten Route der Nazis. Rund 200 Leute besetzen die Kreuzung.

Die Stimmung ist entspannt, auch wenn an der nächsten Kreuzung berittene Polizei zu sehen ist. Der Lautsprecherwagen kommt, und es ertönen Techno-Beats, einige tanzen. Vermummte zünden ein paar Meter weiter einen Plastikcontainer an, schwarzer Rauch hüllt alle ein. Zwei Stunden Warten sind angesagt, dann wird klar, daß die Nazis von der Polizei umgeleitet worden sind. Alle laufen los. Auf der Wandsbeker Chaussee stehen Wasserwerfer, jede Menge Polizeiwannen, Hunderte Polizisten.

In einer engen Wohnstraße eskaliert die Lage. Polizeiketten vor einer Kreuzung deuten auf die neue Route der Nazis hin. Hunderte Gegendemonstranten versuchen die Ketten zu durchbrechen, es fliegen Steine, Flaschen, Bretter. Zwei Wasserwerfer sind im Einsatz, immer wieder stürmen Trupps der Polizei vor, prügeln auf die Leute ein. »Verpißt euch!« brüllt ein Beamter.

Dann kommen die Nazis. Nur ihre Fahnen sind zu sehen. Wieder fliegen Steine und Flaschen. Aber die Polizeiketten stehen. Die Demonstranten ziehen ab. Alle sind kaputt, aber nicht unzufrieden. Es ist nicht gelungen, den Aufmarsch der Nazis zu verhindern – das war angesichts des massiven Polizeieinsatzes unmöglich. Aber Tausende haben an diesem Tag in Wandsbek ein machtvolles Zeichen gesetzt, daß sie es nicht tatenlos hinnehmen, wenn die Nazis ihre Propaganda auf die Straße tragen.

*** Aus: junge Welt, Montag 4. Juni 2012


Hanseatische Zeichen

Von Markus Drescher ****

Der Naziaufmarsch und die Proteste dagegen: Von aktivem Widerstand, bunte Kärtchen in die Luft halten bis hin zu blindem Aktionismus reichte die Bandbreite auf Seiten der Nazigegner. Hamburg war am Samstag eine geteilte Stadt. Am Rathausmarkt versammelten sich 10 000 Menschen, die ein Zeichen setzen wollten gegen die Nazis - kilometerweit entfernt von ihnen. Mehr als ein paar nette Bilder fürs Fernsehen und ein irgendwie gutes Gefühl bei den Teilnehmern, etwas getan zu haben - nämlich tatsächlich etwas zu tun und sich direkt mit den Rechten auseinanderzusetzen -, bringen solche Proteste nicht.

Aktionistisch, aber sinnfrei sind hingegen militante Aktionen um der militanten Aktionen Willen. Was soll es bringen, abseits jeglichen Geschehens Anwohnern ihre Mülltonnen anzuzünden? Nicht nur dumm, sondern auch gefährlich wird es, wenn Steine, Flaschen usw. in die - nicht behelmten und gepanzerten - eigenen Reihen der Sitzblockaden fliegen. Dass die Nazis nur eine verkürzte Route laufen konnten, ist ein Erfolg. Gar nicht gelaufen wären sie höchstwahrscheinlich, wenn die 10 000 Leute aus der Innenstadt auf Blockaden rumgestanden wären. Und ein bisschen weniger Feuer und Gewerfe könnten einer Entscheidung dafür beim nächsten Mal mit Sicherheit zuträglich sein.

**** Aus: neues deutschland, Montag 4. Juni 2012 (Kommentar)


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