Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Marseillaise in Offenbach

Zum fünften Todestag des Kommunisten und Antifaschisten Peter Gingold

Von Ursula Püschel *

Peter und Ettie Gingold gehörten zu den profiliertesten und bekanntesten Antifaschisten der Bundesrepublik. Beide haben in ihren letzten Lebensdekaden als Zeitzeugen des antifaschistischen Widerstandskampfes vor ungezählten Schulklassen und Jugendgruppen, auf Demonstrationen und Kundgebungen gesprochen und auf diese Weise einen wirkungsvollen Beitrag dazu geliefert, über die Wurzeln des Faschismus aufzuklären und insbesondere Jugendliche zu mobilisieren.

In Frankfurt am Main gründete sich 2010 eine Gingold-Erinnerungsinitiative. Am 8. Mai 2011 präsentierte sie den Film »Zeit für Zeugen – Eine Hommage an Ettie und Peter Gingold« im Gewerkschaftshaus Frankfurt am Main.

Bei den Recherchen zu dem Film erfuhren wir auch von der Gingold-Geschichte der Literaturwissenschaftlerin Ursula Püschel, die im folgenden zu lesen ist. Wir waren der Meinung, daß sie unbedingt in die Welt gehört. Wer sie gelesen hat, sei an den Todestag von Peter Gingold erinnert, der sich am Samstag (29. Okt.) zum fünften Mal jährt.

Mathias Meyers für die Gingold-Erinnerungsinitiative


Für wie viele Menschen aus halb Europa, bekannten und unbekannten, die kein Geld hatten, um in der Bankenstadt Frankfurt am Main in einem Hotel abzusteigen, mag wohl Gingolds Wohnung in der Reichsforststraße (welch ein Name!) Quartier gewesen sein? Genossen, Sympathisanten, wie wir damals sagten – jemand rief an und fragte, ob sie mal wieder helfen könnten: Auf Gingolds Zusage war Verlaß.

Damals – die Zeit, als die Friedensbewegung in der BRD gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluß zur Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen aktiv werden mußte. Der Krefelder Appell 1980 war ein Aufruf an die Bundesregierung, ihre Zustimmung zur Stationierung zurückzuziehen und innerhalb der NATO darauf zu drängen, das atomare Wettrüsten zu beenden. Damals lebte noch eine Mehrzahl Menschen unter den Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt und die Bilder von Nagasaki und Hiro­shima gesehen hatten; damals griff eine Ahnung vom Menschheitsvernichtenden der Atomkraft um sich, die heute zur Gewißheit geworden ist. Mehr und mehr Menschen verloren jetzt auf immer das, was früher Seelenruhe hieß. Und ich wußte, daß die Menschen, die mich in Frankfurt aufnahmen, dazugehörten.

Ein unerhörter Vorgang

Frankfurt am Main – die Geburtsstadt Goethes und Bettinas von Arnims auch. Dort gibt es das Freie Deutsche Hochstift in Goethes Geburtshaus – zerstört im Krieg und originalgetreu nachgebaut. Das Hochstift bewahrt eine der zwei größten Handschriftensammlungen des Landes – die andere befindet sich in Weimar. Auch von Bettina von Arnim sind dort Manuskripte und Korrespondenzen von ihr und über sie archiviert. Ihre Kenntnis sollte mir helfen, ihr von der maßgebenden deutschen Literaturwissenschaft fabriziertes Bild als »Goethes wunderliches Kind« oder als »Sibylle der Romantik« durch ein reales zu ersetzen. Ihre enormen Leistungen als politische Schriftstellerin wurden verschwiegen oder verleugnet – ein unerhörter Vorgang, wenn auch kein einmaliger. Diesen Zustand verändern zu helfen, das war meine Sache, deswegen wollte ich im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main arbeiten. – Ich gebe zu: Die Orte des Mädchens Bettine hier in der Nähe, die reizten mich auch.

Ettie und Peter haben keine Frankfurter Vergangenheit. In der Nazizeit lebten sie in Frankreich. Sie sind Kommunisten. Ettie, die Silberhaarige, ist eine zierliche und kleine Person, sie sieht zu mir auf mit ihrem strengen Blick. Unterschriften sammeln für den Krefelder Appell, in drei Jahren, bis 1983, wurden es vier Millionen. Ettie war die erfolgreichste von denen, die mit den Listen zum Unterzeichnen aufforderten. Wie kann ich’s erfahren haben? Von Peter vielleicht– an den Stolz auf seine Frau kann ich mich erinnern. Ungeschickt teile ich meine Bewunderung mit. Aber sie sagt in aller Ruhe mit ihrer dunklen Stimme: Weil ich so alt bin, da trauen sich die Leute nicht so schnell wegzuhören.

Wenn ich abends nach Hause komme aus dem Hochstift, müde und etwas durcheinander, weil ich in einen Alltag von vor hundertfünfzig Jahren zurückgetaucht bin beim Entziffern der Handschriften, erkundigt sich Ettie höflich, wie’s war. Ich fange an zu schwärmen von meinen kleinen Entdeckungen, die mir die Zeit von damals näher bringen – dann fragt sie schon mal ernst, ob es nichts Wichtigeres gäbe.

Lasse ich aber durchblicken, wie gern ich Offenbach sehen würde, wo die Bettine bei der Großmutter, der Schriftstellerin Sophie Laroche, gelebt hat, als die Mutter tot war, dann sagt Ettie streng zu ihrem Peter: Du kannst doch Ursula hinfahren.

Der Mann, der sich für mich ans Steuer setzt – übermütig wie ein Junge, der Schule schwänzt, lässig wie ein Kommandeur, der seinem Fahrer heute freigegeben hat – ist ein Ritter der Französischen Ehrenlegion. Aber Ettie muß immer aufpassen, daß er sich die Jacke richtig zuknöpft. Ihre Sprache hat eine präzise Härte, sie rollt das Rrr wie Leute aus slawischen Gegenden, sie kommt aus Rumänien, aber auch dort sprach sie deutsch in ihrer jüdischen Familie. Peters hessische Intonation klingt improvisiert, seine Erscheinung hat überhaupt einen Zug von Improvisation. Er hat aber die braunen Augen wie die Leute der Anna Seghers, von der blitzenden, feurigen Art. Es ist das hier ja auch die Gegend von Osthofen, Westhofen – Landschaft und Leute vom »Siebten Kreuz«. Peter kennt Anna aus der »Jugend«, der Freien Deutschen Jugend in Paris. Dort haben die Älteren wie Hermann Duncker oder Anna Seghers Vorlesungen gehalten. Anna Seghers sprach nicht etwa von dem Buch über Deutschland, an dem sie schrieb, sondern über das, was sie studiert hatte, Kunstgeschichte war ihr Fach, davon teilte sie mit. Unter den jungen Zuhörern waren zufällig ein Verlagsbote und eine Sekretärin, die in Frankreich ein besseres Französisch lernen wollte.

Auf Spurensuche

Von Frankfurt nach Offenbach konnte man damals mit der Straßenbahn fahren. Oder, früher, zu Fuß gehen – wie Clemens Brentano durch den Schnee, wenn er seine kleine Schwester Bettine besuchen wollte. Das Mädchen nahm auch das Marktschiff, um sich auf dem Main zwischen dem Brentano-Haus in Frankfurt und der Grillenhütte der Großmama in Offenbach zu bewegen.

Hier werden wir wohl Auskunftsfähige finden, die wissen, wo Sophie Laroches Domizil gestanden hat, das von Deutschlands erster Schriftstellerin. Peter lacht mich aus, weil ich das annehme. Es hatte sicher nicht bloß Hütten-Größe, wenn sie auch nicht reich war. Eine Rente als Witwe eines Beamten des Erzbischofs von Mainz bekam sie nicht und mußte fleißig arbeiten an ihrem »Schreibetisch«, um Geld zu verdienen. Sie nahm sogar den Sohn ihrer Frankfurter Freundin aus dem reichen Hause Bethmann in Pension, und auch die Brentanos zahlten für Sophies drei Enkelinnen.

Darunter war die Bettine, die war zwölf oder dreizehn, sie blieb etwa fünf Jahre, von 1797 an. Sophie zählte bereits siebenundsechzig, eine so alte Frau ließ sich damals nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen. Ihren Ruhm hatte sie hinter sich, der gründete auf dem »Fräulein von Sternheim«, dem ersten Roman einer Frau. Damals lag ihr die nachrückende Generation zu Füßen, der sie mit ihrem Buch etwas Luft verschafft hatte, Herder, Lenz, Merck, die Jacobis, Goethe. Das war noch in Koblenz-Ehrenbreitstein, doch auch in die Grillenhütte kamen noch Besuche. Das Haus hatte einen Garten mit einer Reihe Pappeln, einem Waschhaus, dessen Dach ein Lieblingsplatz von Bettina war, einem Taubenschlag, Apfelspaliere, gepflegte Blumen, einem Bosquet, aber auch Salat und Kräuter und Kohl, das versorgte der Gärtner, dessen Gesellschaft diese Enkelin suchte – doch das gehörte sich nicht. Obwohl es hieß, man fahre in die Stadt, wenn man nach Frankfurt fuhr, hatte der Ort selber auch einiges aufzuweisen. An erster Stelle die Schnupftabakfabrik des Herrn Peter Bernard, der ein eigenes Orchester unterhielt, zu dessen Darbietungen alle wohlhabenden Offenbacher Bürger freien Zutritt hatten. »... im freien Feld steht das große Haus, worin Bernards blasende Instrumentalisten alle wohnen, die sich manchmal das Plaisier machen, aus allen Fenstern heraus nach den vier Weltgegenden hin ihre Passagen zu exzerzieren«, schrieb Bettina. Der Nachbar der Großmama aber war der Herr Johann André, Klavierbau, Musikverlag. Der hatte vom Steindruck erfahren, und dessen Erfinder, der Aloys Senefelder, kam, um das Verfahren zu etablieren, mit dem der Notendruck möglich wurde. Mozart sogar war einmal zu Gast, dessen drei Klavierkonzerte André druckte. Auch wird eine Inszenierung der Zauberflöte gemeldet. Was da für Musik gemacht wurde, darauf konnte Frankfurt neidisch sein.

Das war noch vor Bettines Zeit. Doch hier fühlte sie sich wohl, Frankfurt lag ihr wie Blei auf dem Herzen. Hier lebt man mit den Tageszeiten, dort in den schmalen, überbauten Gassen kommt nicht mal Sonne ins Zimmer. Und »in den Straßen riecht es nach Schacher; sonntags sind die Läden geschlossen! Was steckt hinter diesen eisernen Stäben und Gittern? – Schacher, Geld! Was machen die Leute mit dem Geld? – Ach, sie geben Dinees, putzen sich und fahren mit zwei Bedienten hinten auf!«

Spiegelungen

Schacher sagt man heute nicht mehr. Peter zeigt am Messegelände auf neue Hochhäuser, Hotels für Leute, die Geschäfte machen. Auch hier fehlt das schöne alte Häuserzubehör, das Fenster. Die Fassade ist aus braunem Glas, das sich weder zum Heraus-, noch zum Hineingucken eignet. Es zwingt mich, mich selber zu bespiegeln; was ich zu Gesicht bekomme, bin ich, ICH. Im Reiseführer steht das Bankenviertel, sieben mittlere Wolkenkratzer von 36 bis 48 Stockwerken. Die Frankfurter hätten es nicht gewollt, meldet der traditionsreiche Baedeker. Ob sie wissen, was drin ist? Vierzig Stockwerke, sagen wir in jedem hundert Personen, macht viertausend, mal sieben gleich achtundzwanzigtausend – eine Kleinstadt. Aber wie wenig braucht man, um im Bankgeschäft die untergeordnete Arbeit zu machen, und für den großen »Schacher« werden sich die Akteure ja nicht gerade in der Neuen Mainzer Straße treffen. Die kleinen Flecken, in denen Historisches nachgebaut ist, wirken komisch vor den 36 bis 48 Stockwerken, wie Disneyland. Bei unserer Stadtbesichtigung sage ich zu Peter, die Dinger schüchtern mich ein, wenn ich ehrlich bin. Er lacht. Wie früher die Dome, sagt er – der Mensch ist klein und unbedeutend vor dem Gott oder vor dem Geld.

Nicht nur in Frankfurt ist im letzten Weltkrieg außerordentlich viel zerstört worden, auch Offenbach hat’s abbekommen. Sein neues Rathaus, 1968-70 erbaut – gebaut sagt ein Reiseführer nicht –, erhebt sich als ein selbstbewußter Dreikantturm aus Beton, mit 72 Metern eines der höchsten Gebäude Offenbachs. Aus solchem »Selbstbewußtsein« kann auf das architektonische Aussehen der Stadt rückgeschlossen werden. Auch hier beleidigen unpassende Proportionen die Sinne, als gäbe es keine Möglichkeiten, Vergangenheit und Gegenwart miteinander ins Gespräch zu bringen. Peter fährt ein paar Kurven– das war das Zentrum, es lohnt nicht zu halten. Zurück zum Fluß. Ein großes Gebäude aus rotem Sandstein taucht auf: das Isenburger Schloß. Der kleine Ort war einmal Hauptstadt, nämlich des Fürstentums Isenburg-Birstein. Das hat Napoleon liquidiert. Als es noch Landesherren gab, hat einer 1754 seinen Sitz von Birstein nach Offenbach verlegt. Da steht nun ein imposanter mehrstöckiger Kastenbau direkt an der Straße von Frankfurt nach Aschaffenburg. Er wirkt so vollkommen wie ein Modell, alles aus einem Guß: barocke Renaissance.

Die Herrschaft verkehrte übrigens zu Sophie Laroches Zeiten auch in der Grillenhütte, denn sie selber ging nie aus, die Großmama. Für einen seltenen Baustoff hatte die Enkelin spezielle Verwendung: »... ich ging auf Raub nach Rötel für meine Zeichnungen. (Den roten Granit) hab ich in der frühesten Frühe, wo kein Mensch merkte, daß ich die Häuser demolierte, mir beim Herrn Nachbar herausgebohrt und habe dann meiner Flora einen Kranz von Rosen aufgesetzt mit diesem gestohlenen Gut!« Das interessierte Peter: Wenn das Mädchen zurückkam in der Morgenfrühe von ihren heimlichen Spaziergängen, konnte sie in Offenbachs kleinen Straßen Beobachtungen machen, die lehrreich waren für die Weltgeschichte. Es hatten sich Aristokraten niedergelassen, die vor der »Volksmajestät« (Bettines Wort) der Revolution in Frankreich emigriert waren. Der Duc de Choiseul kaufte jetzt eigenhändig beim Bäckerjungen, und wenn die Milchfrau kam, wurden Milchtöpfchen aus allen Fenstern gestreckt – »einer, der sich von Spitzbuben umringt sieht, kann sich nicht ängstlicher durchschleichen als ich zwischen dem Milchhandel dieser vornehmen Emigranten, ehemals waren sie von einer großen Valetaille umringt (wir würden wohl sagen: Bedientenpack), die sich wieder bedienen ließ von allerlei Gesindel«, sie hatten ein Heer von Müßiggängern beschäftigt mit Angelegenheiten, die nur der Müßiggang notwendig macht, und nun: »Sie malen, sie schleifen in Glas, sie sticken Blumen auf Bandschleifen, sie drechseln, sie überschwemmen das Land mit närrischen Künsten, und die Großmama wundert sich, daß unter allen keine Gelehrten sich finden.« Das war in Offenbach. In Frankfurt finanzierte der Kaufmann Peter Anton Brentano, Bettines Vater, den Prinzen Condé, der mit seinem Söldnerheer die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit besiegen wollte – ein Vorgang, der sich nun in vielen Variationen in allen Teilen der Welt wiederholt.

Die zweite Geburt

Auch Peter gehört zu den Mitwirkenden der Weltgeschichte.

Er macht sich lustig über meinen ungebremsten Forscherdrang, aber wie er auf Aschaffenburg zu sprechen kommt, wird auch er schwärmerisch. Nach dem Krieg, als er wiederkam, war die Straße, die er suchte, ganz kaputt bis auf ein Haus: das, in dem er zur Welt gekommen ist. Warum hab ich das nicht erwartet von dem Mann mit dem spärlichen grauen Haar, mit den vielen Pflichten, die er zuverlässig überall erfüllt, daß sein Herz an Aschaffenburg hängt? Dort packte ein kleiner jüdischer Schneider rechtzeitig seine Frau und die Kinder auf und ging über die Grenze. Er vertraute nicht wie manche Glaubensgenossen darauf, daß die Deutschen etwa ihre Pflichten gegen die jüdischen Frontsoldaten, die gegen Deutschlands Feinde ihr Leben einsetzten, nachkommen würden. Er hatte andere Erfahrungen gemacht und fürchtete immer, es könnte noch schlimmer kommen. Peter, schon siebzehn, war in der Lehre, in Paris aber mußte er sehen, wo sich was anbot, damit er Geld verdienen konnte. Doch er lernte jetzt, was Faschismus ist und wie man ihn bekämpft. Der mit dem feurigen Blick, der die Ettie gekriegt hatte, lebte nach den Regeln der Résistance, nach ihren strengen Gesetzen. Ein Auftrag: Verbindungen herstellen zu deutschen Besatzern, seinen Landsleuten, daß der Krieg schneller zu Ende ist. Peter wurde verraten, französische Beamte brachten ihn nach Paris und lieferten ihn bei der Gestapo ab. Was er diesen Deutschen wert war, ist klar – er kennt Verbindungsleute. Er wird so gefoltert, daß der Tod Erlösung wäre. Das wird bald sein, wenn er nicht redet.

Wenn sie ihn aber so zurichten, daß er die Kontrolle verliert? Da denkt er sich in den Nächten ein ungeheures Spiel auf Tod und Leben aus, allein, ohne jeglichen Rat. Namen kenne er nicht, aber es gäbe einen Dauertreffpunkt, dort könnten sie sehen, mit wem er Kontakt habe; er sei bereit, zu diesem Treff zu gehen. Die Deutschen scheinen ihm zu glauben. Er wird hingefahren an dem Wochentag zu der Stunde, die er für seinen Treff angegeben hat. Wieso hatte er sich dieses Pariser Haus so genau gemerkt? Vom Hof gibt es einen zweiten Durchgang in eine andere Straße, und die Haustür hat von außen keine Klinke. Wenn sie zu ist, muß man nach dem Concierge klingeln und warten, bis der das schwere Ding – erst oben, dann unten – geöffnet hat. Aber wenn dienstags um halb neun die Müllmänner kommen, ist die Haustür offen. Peter setzt auf den kurzen Moment der Verblüffung seiner Verfolger vor dem zugeschlagenen Tor ohne Klinke.

Wer die Geschichte hört, der bebt für den Ausgang, der wünscht mit heißem Herzen, daß die Flucht glücken soll. Aber der alte Peter ist ja da– ihn schmerzen noch manchmal die Narben, und er sagt mit seiner jungshellen, ein wenig hessisch getönten Stimme: Das war meine zweite Geburt.

Die Grillenhütte haben wir noch nicht aufgegeben. Wir gehen durch einen verkümmerten Park, dem ein hohes Alter zuzutrauen ist, ein neuer Kinderspielplatz mit einer Plastewippe, eine Fabrikmauer, neugotisch, die die Firma »Siemens und Halske« in Anspruch nimmt, und ein schmuckes kleines Häuschen, frisch geweißt, zwei Geschosse – wieso steht es hier allein, als wäre es ein Parkwächter? Ein Schild teilt mit, es sei das Ziel von Ausflügen Goethes mit Lili Schönemann gewesen. Das war nun fünfundzwanzig Jahre vor Bettinas Offenbacher Zeit, da war an sie noch gar nicht zu denken, in deren Werk und Leben später Goethe den bestimmenden Platz einnahm. Ein großer alter Bau kommt in Sicht, nicht das Höchste in Offenbach – siehe dreikantiges Rathaus –, aber offenbar das Größte. An einem der Flügel des Gebäudes steht: Stadtbücherei, ein anderer mit Freitreppen und heraldischen Löwen beherbergt bloß ein Restaurant. Dafür war es nicht vorgesehen. Ich steuere auf eine alte Dame zu und fühle, wie aussichtslos Peter das findet. Sie bleibt stehen – nach dem teuren Äußeren wohl wirklich eine Dame – und sagt: Ja das Büsching-Palais, das wurde für den Schnupftabakfabrikanten Bernard und seinen Teilhaber d’Orville gebaut. Früher, bevor es zerstört wurde, war hier das Rathaus. Und nun wolle de Offebacher auch was herzeige könne. Wieder aufgebaut für ein Kulturzentrum oder sowas. Ich staune. In Frankfurt habe ich nie einen ironischen Ton vernommen. Da klang alles so, als sei jeder Mitbesitzer der großen Banken.

Eine wunderbare Melodie

Nun wird es ein langes Gespräch. Die alte Dame ist froh, sie hat niemand mehr, der mit ihr spricht. Ihr Mann ist tot, er kam krank aus dem Krieg zurück – hat das Vaterland verteidigt, so sagt man doch, sagt sie. Daß jemand dieses Soldatentum in Frage stellt, trifft man nicht alle Tage in der Bundesrepublik. Sie sei nicht von hier, sondern aus dem Elsaß – es scheint sie zu freuen, daß sie sich mit dem deutschen Provinziellen nicht zu identifizieren braucht. Jetzt stellt Peter meine Fragen. Sophie Laroche? Berühmt? Nein, die Häuser der berühmten Offenbacher gibt es nicht mehr. Dort drüben am Rande des Parks stehen Denksteine für sie. Dort ist aber nur ein Stein für den Klavierfabrikanten André. Dessen Haus und Sophie Laroches Grillenhütte haben noch gestanden, lese ich später endlich in einem Buch von 1965, sie standen in der Dom-Straße und seien vor einigen Jahren einem Straßendurchbruch »zum Opfer gefallen«, der war wichtig für die Zukunft Offenbachs. Die Nachbarhäuser von André, dem ersten Notendrucker, und von Laroche wurden liqudiert »ohne Sentimentalität«, wie es immer mal wieder in stadthistorischen Veröffentlichungen heißt.

Meine Dame fragt, ob wir denn nicht das Einkehrhäuschen von Lili und Goethe gesehen haben. War Lili aus Offenbach? Nein, ach wo, Schönemann, das war eine der Frankfurter Bankiersfamilien, die Tochter Lili Goethes einzige Verlobte. Von der Ostermesse bis zur Herbstmesse 1772. »Bin ich’s noch, den du bei so vielen Lichtern / An dem Spieltisch hältst? / Oft so unerträglichen Gesichtern / Gegenüberstellst ...«, hatte Goethe in ihrer beider guten Zeit lyrisch gefragt. Die Lili hat dann den Baron von Türckheim geheiratet, sagt meine Dame, und mit dessen Familie bin ich verwandt. Nun beginnt sie davon zu reden, daß ja damals die französische Revolution war, vorsichtig, wie mir scheint – kann man wissen, wie Bundesbürger solche Sachen, die es besser nie gegeben hätte, aufnehmen werden? Sie spürt unsere Ermunterung, das wollen wir wissen. Die Türckheims hatten ihren Sitz in Strasbourg, dort habe sich eines Nachts – es war die vom 25. zum 26.April 1792 – die Einquartierung – der Infanterielieutenant Rouget de l’Isle – ihre Augen fragen, ob wir ihn kennen – ans Klavier gesetzt und improvisiert. Aus der Melodie, die er gefunden hatte, wurde die Marseillaise. Jetzt sieht meine Dame so aus, als habe sie in ihrer Jugend heimlich am Türspalt gehorcht. Und sie sagt, die Melodie finde sie wunderbar.

Was der Zufall da zusammengetrieben hat auf dem Platz, wo in heller Sonne Boccia gespielt wird: Mich, ohne weitere Legitimation, bloß mit Lilis Jüngling sehr vertraut, der dann der Weimarer wurde, die alte Dame, in verwandtschaftlichen Beziehungen zur Familie und damit zu der Zeit, seit »Allons enfants de la patrie« zur Hymne des Aufstands wurde, Peter, der einst in schlimmer Zeit dies Banner hochgehalten hat als heimatvertriebener Deutscher und als Franzose. Peter ermuntert, nicht nur die Melodie, auch der Text sei gut, und er stimmt gleich den Refrain an zum Mitsingen: »Aux armes! Citoyens, formez vos battaillons! Marchons, qu’un sang impur abreuve nos sillons!« Also: Die Waffen in die Hand! Auf Bürger, aufgestellt! Marschiert, und böses Blut soll tränken unser Feld! Aber so weit will meine Dame nicht gehen, sie summt nur leise mit und bleibt bei ihrer Sympathie für die Melodie. Doch als wir uns trennen, tun wir das ungern.

Offenbach war der Ort für ein Erlebnis Bettine Brentanos, das die mit ihr teilen, die das Sein nicht so hinnehmen, wie sie es vorfinden. Dazu gehören auch Bücher, lehrreiche Schriften, nach denen ein Mensch bestärkt wird, Nein oder Ja zu sagen. Bücher, die Bettina halfen, entscheiden zu lernen, wurden in der Großen Revolution geschrieben: »Jeden Nachmittag kommt (…) der blinde Herzog Aremberg, mit einem großen Packen Revolutionsblätter, Sieyès, Mercier, Pétion, noch andre, die mit großem Ernst am Weltgeschick weben. Das klingt ein in meine verneinende Seele gegen alles, was ich in der Welt gewahr werde, sie beweisen und heben den Schleier von aller Verkehrtheit.«

Ich dränge Peter zu einem Durchlaß in der Kai-Mauer nochmal an den Fluß, der kein Alter hat. Dort fuhr also damals das Marktschiff. Dort ließ sich das Mädchen Bettine eines Winters auf einer Eisscholle treiben und sprang vergnügt auf die nächste. Die Ufer, nach Frankfurt hinauf, nach Offenbach hinab, sind nun schornsteinbesetzt. Gras, Steine, Plastemüll, Cola-Büchsen, bevor der Fluß beginnt, der verbindet und trennt. Wir stehen und schauen in die Zeiten.

www.gingold-initiative.de
www.widerstand-portrait.de


* Aus: junge Welt, 28. Oktober 2011


Zurück zur Seite "Rassismus, Faschismus, Antifaschismus"

Zur Seite "Friedensbewegung und andere soziale Bewegungen"

Zurück zur Homepage