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Neuer Rechtspopulismus

Vorabdruck. In Europa formieren sich autoritäre, rassistische Bewegungen neu – Ungarn unter Premier Viktor Orbán spielt dabei in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterrolle

Von Erhard Crome *

Bei den Wahlen zum ungarischen Parlament 2010 errang Viktor Orbán mit dem rechtspopulistischen Ungarischen Bürgerbund (Fidesz) eine Zweidrittelmehrheit. Was begann, war die autoritäre Umgestaltung Ungarns: Eine Orbán auf den Leib geschneiderte Verfassung und ein reaktionäres Mediengesetz wurden verabschiedet. In seinem in diesen Tagen im Berliner spotless Verlag erscheinenden Buch (96 Seiten, 5,95 Euro) erklärt der Politikwissenschaftler Erhard Crome das Erstarken dieses neuen Autoritarismus und setzt es in Beziehung zu Erneurerungsprozessen der extremen Rechten in Europa insgesamt. jW veröffentlicht um Fußnoten gekürzt Auszüge aus dem Buch vorab.

Radikale rechtsgerichtete Bewegungen sind in jüngerer Zeit nicht nur in Ungarn, sondern auch in Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Italien, Finnland, Rumänien, Bulgarien, Griechenland sowie in Skandinavien in Erscheinung getreten.

In Deutschland beschäftigte monatelang die Sarrazin-Debatte die öffentliche Diskussion. Es zeigte sich deutlich eine explizite oder klammheimliche Zustimmung etlicher Wortführer der sogenannten Eliten in Publizistik, Wissenschaft und Medien zu den Thesen dieses Mannes. Sie sind Ausdruck einer manifesten Ideologie der Ungleichheit und Ausgrenzung, die sich gegen ethnisch und biologisch definierte Minderheiten genauso richtet wie gegen diejenigen, die den Anforderungen der derzeitigen kapitalistischen Gesellschaft nicht gewachsen sind. Auf verbriefte Rechte soll Politik keine Rücksicht nehmen, die Zuwanderung von Menschen, die als kulturell fremd definiert werden, vor allem aus islamisch geprägten Ländern, soll unterbunden werden. Das Ressentiment wird gefördert, indem bestimmte Bevölkerungsgruppen für vorhandene gesellschaftliche Krisen verantwortlich gemacht werden.

Der traditionelle Antifaschismus achtete stets streng darauf, daß kein fremdenfeindlicher Populismus in den klassischen Mustern der 1930er und 1940er Jahre entstand. Zur selben Zeit jedoch renovierte die europäische Rechte ihre politische Ausstattung von Grund auf. Um hoffähig zu werden, machte sie Konzessionen an die demokratischen Spielregeln. Für Westeuropa gilt, daß mit rechtsextremem Putschismus gegenwärtig wohl nicht zu rechnen ist, offener Faschismus wird geächtet, und der Neofaschismus gilt als eine marginale Gegenkultur ohne politische Zukunft.

Am extrem rechten Rand des politischen Feldes bildete sich jedoch eine neue Untergruppe von rechtspopulistischen und fremdenfeindlich radikalisierten Parteien heraus, die drei Themen in den Vordergrund stellte: Sicherheit, Kritik an der Einwanderung und ein identitäres Verständnis von Nationalität.

Politik der Exklusion

Die Konstruktion ihres politischen Programms der Exklusion knüpft an die Werte der Inklusion an, die gewöhnlich von der Linken oder der gemäßigten Rechten vertreten werden. Wilders’ Antiislamagenda in den Niederlanden etwa baut auf der Forderung auf, man müsse die Errungenschaften europäischer Gesellschaften wie Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter (und sexuelle Freiheit) sowie Säkularismus unter Betonung der individuellen, unternehmerischen und persönlichen Freiheiten verteidigen. Das Identitätskonzept dieser neuen populistischen Rechten hat sich von der Kategorie der politischen Nation verabschiedet und setzt auf »Heimat«, eine ethnisch und kulturell bestimmte Homogenität der Bevölkerung in einem bestimmten Gebiet. Ihr Rassismus ist nicht hierarchisierend, sondern setzt an der Differenz an. (Daß Wilders’ »Partei für die Freiheit« PVV bei den Parlamentswahlen im September 2012 von 24 auf 15 Parlamentssitze zurückfiel, kann, aber muß nicht bedeuten, daß sich diese Option erledigt hat.)

Entscheidend für das Verständnis des neuen Rechtspopulismus ist der Zusammenhang mit den Grundinteressen der Normalbürger. Bei der Analyse der »Wahren Finnen« ist von Bedeutung, daß man in Finnland schon seit längerer Zeit von einem rechtspopulistisch ansprechbaren Teil der Wählerschaft wußte, dieser jedoch erst spät seinen adäquaten parteipolitischen Ausdruck fand. Linke, sozial orientierte Analytiker neigen dazu, Rassismus als ein Problem ausgegrenzter junger Männer zu sehen. »Das Klischee eines Europäers mit radikalen Ansichten ist ein arbeitsloser, ungebildeter Kerl, der in einer heruntergekommenen Vorstadt lebt.« Studien zeigen jedoch, daß wirtschaftliche Not nicht unmittelbar für Rechtsradikalismus anfällig macht. Die extreme Rechte rekrutiert sich vielmehr aus den Gewinnern der westlichen Modernisierung, die Arme und Ausländer hassen. Es sind vor allem Angehörige der westlichen Mittelschicht in guter Position und der finanziell gut gestellte Teil der Arbeiterklasse, »die versuchen, unter dem Globalisierungsdruck an ihrer privilegierten Position festzuhalten. Die durch Globalisierung und Strukturwandel des Kapitalismus ausgelöste Unsicherheit führt zu Rechtspopulismus«.[1]

Hier liegen wichtige Hinweise für das rechte Phänomen in Ungarn. Die Schwierigkeiten, die Globalisierung und Weltfinanz- sowie Weltwirtschaftskrise mit sich bringen, werden verstärkt durch die Verwerfungen, die die nicht oder nur teilweise gelösten Probleme des post-realsozialistischen Systemwechselprozesses mit sich gebracht haben. Der große Wählerzuspruch für die rechte Fidesz und Premierminister Viktor Orbán in Ungarn erklärt sich nur, wenn man davon ausgeht, daß tief verunsicherte Menschen, auch wenn sie gebildet sind und Arbeit haben, die vergleichsweise ordentlich bezahlt wird, sich bewußt für diese Partei entschieden haben. Da spielt Angst vor dem Abstieg, vor dem Fremden, Angst vor dem Verlust des persönlich Erreichten eine Rolle, die sich nicht nur in der Ablehnung des Fremden – was in der ungarischen Gesellschaft immer auch antijüdisch und antiziganistisch geäußert wurde –, sondern auch in der Abgrenzung nach unten artikuliert. Hier erhält dann Orbáns Politik der Pflege der Besserverdienenden einen gesellschaftlichen Resonanzboden.

In der Mitte der Gesellschaft

Zugleich spielt eine Rolle, daß bereits durch Csurka Anfang der 1990er Jahre, dann durch Fidesz und Jobbik antisemitische und rassistische Positionen im öffentlichen Raum artikuliert werden konnten, die in anderen europäischen Ländern auch im bürgerlichen, konservativen Lager mit einem Tabu belegt sind.

Zu den Besonderheiten Ungarns gehört, daß es neben Fidesz als rechtspopulistischer Partei noch Jobbik als faschistische oder neofaschistische Partei gibt. In vielen anderen Ländern Europas gibt es jeweils nur eine dieser Formationen als gesellschaftlich relevante Kraft. Das an sich ist noch nicht spezifisch – auch in Griechenland existiert neben der rechtspopulistischen Partei »Orthodoxe Volkszusammenkunft« (LAOS) die tatsächlich faschistische Partei »Völkischer Verband. Goldene Morgenröte«; und beide waren kürzlich abwechselnd im Parlament –, spezifisch für Ungarn ist, daß diese beiden Parteien zusammen über vier Fünftel der Parlamentssitze verfügen. Die eine regiert mit der Zweidrittelmehrheit, die andere ist zweitstärkste Oppositionspartei.

Während in Westeuropa die rechten Parteien eher am Rande des politischen Spektrums stehend gelten, sind sie in Ungarn das Spektrum, und die anderen stehen an einem schmalen, links-liberal-grünen Rand. Fidesz und Jobbik vertreten in Ungarn die Mehrheit der Wähler, wahrscheinlich auch der Bevölkerung, wenngleich die stärker werdenden Straßendemonstrationen gegen Orbán einen Stimmungswandel signalisieren.

Betrachtet man vergleichend den derzeitigen Rechtspopulismus als Gestalt des Autoritarismus im Westen und im Osten Europas, so ist er im Westen antistaatlich und libertär, mit einer antiislamischen Ausrichtung, während er in Ungarn und anderen Ländern des europäischen Ostens staatsorientiert, antieuropäisch und konservativ-christlich in einem traditionellen Sinne ist, zugleich antisemitisch und antiziganistisch. Der Staat soll für Gerechtigkeit und soziale Sicherheit sorgen. In diesem Sinne ist Fidesz eine rechtspopulistische Partei, die sich starke politische, ideologische und nunmehr auch institutionelle Positionen in Ungarn geschaffen hat. Damit ist sie die relativ stärkste rechtspopulistische Formation in Europa. Und das Regime, das im Laufe der vergangenen zwei Jahre in Ungarn geschaffen wurde, kann nur als autoritäres charakterisiert werden.

»Neuartige Diktatur«

Das Buch von Paul Lendvai »Mein verspieltes Land« wurde von Orbáns Parteigängern mit großem Mißfallen aufgenommen. Lendvai, als Kind jüdischer Eltern 1929 in Budapest geboren, war 1956 nach Wien geflohen, hatte viele Jahre als Journalist und Publizist gearbeitet und galt spätestens seit den 1970er Jahren als einer der besten Kenner der Wandlungsprozesse im Osten Europas. Er war ein Anhänger der Entspannung, aber nie ein Befürworter des Realsozialismus. Ausgerechnet er hatte dieses Buch geschrieben.

Kaum war das Buch auf dem Markt, wurde eine Rufmordkampagne gegen ihn in Gang gesetzt. Die Fidesz nahestehende Wochenzeitung Heti Válasz (Antwort der Woche) ließ verlauten, Lendvai sei »freiwilliger Informant« des »kommunistischen Regimes« gewesen und habe diesem »gedient«. Das Titelblatt der Ausgabe vom 18. November 2010 zierte das Konterfei des Buchautors unter stilisierten Glassplittern. Die präsentierten Belege erwiesen sich rasch als Konterbande. Eine Buchvorstellung in Zürich wurde gestört.

Eine für den 24. November 2010 geplante Veranstaltung an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität wurde durch den Mitveranstalter, die Heinrich-Böll-Stiftung, abgesagt, weil es Hinweise gab, daß ungarischstämmige Rechtsextreme die Veranstaltung stören wollten. Lendvais Bitte um Polizeischutz lehnten die deutschen Behörden ab, wegen anderer Terrorwarnungen verfüge man nicht über genügend Beamte. So blieb nur die Absage.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. November 2010 kritisierte Georg Paul Hefty die Absage, insbesondere sei der Tonfall der Heinrich-Böll-Stiftung auf der Einladung unangemessen provokant gewesen, so daß Proteste dagegen absehbar waren – also die Veranstalter waren schuld. Warum kündigten sie so eine Veranstaltung auch derart an?

Im Herbst 2010 spitzten sich die Auseinandersetzungen um das Orbánsche Mediengesetz zu. György Konrád, ungarischer Schriftsteller, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und früher Präsident des Internationalen PEN, erlebte in Budapest die Veränderungen der politischen Rechtsentwicklung unmittelbar mit. Wenn man über das Mediengesetz des Ministerpräsidenten Viktor Orbán spreche, so Konrád im Spiegel 2/2011, gehe es im wesentlichen »um die Erstickung der Presse- und kulturellen Freiheit. Gestohlen wird uns das, was das Ziel und die Errungenschaft der öffentlichen und der illegalen demokratischen Bewegung sowie das Wunder von 1989 war. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen und der Rundfunk unterliegen bereits einer strengen Zensur und gestalten sich zunehmend nichtssagend«. Entstanden sei »eine neuartige Diktatur«.

Unmittelbar nach Bekanntwerden des Mediengesetzes in Ungarn reagierte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn mit Empörung und forderte die EU-Kommission auf, unverzüglich gegen dieses Gesetz vorzugehen. Es verstoße gegen Geist und Buchstaben der EU-Verträge. In Deutschland überschrieb der selbst ziemlich konservative Historiker und Publizist Michael Stürmer in der ziemlich konservativen Zeitung Die Welt am 22. Dezember 2010 seinen Text zum Mediengesetz mit »Führerstaat Ungarn«. Das neue Mediengesetz gebe »der neuen Nationalen Medien- und Telekommunikationsbehörde weitgreifende antidemokratische Vollmachten. Von Zensur und Beschlagnahme von Dokumenten bis zum materiellen Ruin unliebsamer Medien gehört alles dazu, was sich ein autoritäres Regime wünschen mag. Es ist ein Ministerium für Meinungssteuerung und Lobpreis der Macht. Die Spitzenvertretung besteht aus Parteigängern und Günstlingen des Premiers Viktor Orbán. War Österreichs Haider-Zwischenspiel noch Operette, so ist, was sich in Ungarn abspielt, Tragödie. Im Falle Österreichs nahm die Europäische Union noch Anstoß und strafte die Alpenrepublik durch Versetzung in die Strafecke. Im Falle Ungarns passiert gar nichts, obwohl der Weg in den autoritären Staat vorgezeichnet ist und wahrhaftig nicht über Nacht begann. Die Freiheit, die Ungarn vor zwei Jahrzehnten für sich und andere errang, geht dahin.«

Kurz vor Weihnachten forderte Martin Schulz – damals Vorsitzender der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, aktuell EP-Präsident – angesichts dieses Mediengesetzes die anstehende EU-Präsidentschaft Ungarns auszusetzen. Das wurde abgelehnt.

Schützenhilfe von der FAZ

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung trat nun wieder Georg Paul Hefty auf den Plan. Am 27. Dezember 2010 schrieb der FAZ-Redakteur, die Medienpolitik in Ungarn sei »das Feld einer parteipolitischen Dauerschlacht« gewesen, richtige Regelungen – wie in Deutschland – habe es nicht gegeben, so daß auch die Rechtsextremen hätten agieren können. Daß die Kritiker Orbáns eher von links kommen, und daß Orbán an Entstehung und Ausgreifen des Rechtsextremismus in Ungarn in Zeiten der Opposition seiner Partei nicht unbeteiligt war, verschweigt Hefty sorgsam und stellt vielmehr fest: »Es gab für Orbán und sein parlamentarisches Regierungsbündnis also gute Gründe, den radikalen und gar extremistischen Tendenzen in den Medien etwas entgegenzusetzen.«

Kein Wort zum Gesetz selbst, vielmehr eine freundliche Deutung aus einer verkürzten Kontextbeschreibung heraus mit dem Fazit: Das Gesetz sei nötig gewesen.

Der Vorgang war auch insofern erstaunlich, als Hefty eigentlich innenpolitischer Redakteur der FAZ ist. Allerdings hatte er 1977 zur ungarischen Außenpolitik promoviert sowie publiziert und hatte später den Wandel in Ungarn als Korrespondent beobachtet.

Vor diesem Hintergrund erhielt er nun offenbar eine Art Federführung in Sachen Orbán-Interpretation für die gehobenen Schichten dieses Landes. Bereits am 3. Januar 2011 schrieb er in dieser Eigenschaft den Leitartikel der FAZ auf Seite eins, in dem er das Mißtrauen in der EU gegenüber dem ungarischen Ratsvorsitz geißelte: »Die EU ist mit ihrer parteipolitisch taktierenden Kritik an der rechtskonservativen Regierung Ungarns in Gefahr, strategisch, also auf lange Sicht, sich wie die Katze in den Schwanz zu beißen.«

Wieder kein Wort zum Mediengesetz in der Sache, sondern Kritik der Kritiker Orbáns, diese würden nur aus parteipolitischer Taktik heraus handeln. Dazu schrieb Hefty dann weiter: »Seine Partei Fidesz ist europaweit allen Sozialdemokraten und Linksliberalen ein Dorn im Auge, weil ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament dokumentiert, daß nach dem völligen Vertrauensverlust der ungarischen Sozialisten und Freien Demokraten das Volk (…) der rechten Mitte zur Regierungsfähigkeit verholfen hat.« Hier sei ausdrücklich nochmals darauf verwiesen, daß Die Welt und Stürmer nun wirklich linker Umtriebe unverdächtig sind, aber angesichts des Mediengesetzes genauso argumentiert hatten, wie es Hefty jetzt als »links« denunzierte.

Nebenbei ist interessant, daß Hefty, einst Mitarbeiter der Unionsfraktion im Bundestag, Orbán als »rechtskonservativ« einführt, um ihn dann als »rechte Mitte« aus der Argumentationsfigur wieder zu entlassen. Hier wäre schon interessant, die Frage zu klären, ob dies für den Leser in Deutschland als gleichbedeutend anzusehen ist.

Reinhard Müller, ebenfalls innenpolitischer Redakteur der FAZ, ehemaliger Feldjäger, studierter Jurist und eigentlich für den Themenbereich »Staat und Recht« zuständig, war dann der Mann für den Kommentar auf Seite eins am 11. Januar 2011, wieder in Sachen Kritik der Orbán-Kritiker. Er meinte zunächst: »Wenn eine zugelassene Partei in eine Regierung gewählt wird, dann ist das zunächst einmal kein Fall für Brüssel oder die anderen Mitgliedstaaten. Niemand steht unter Generalverdacht.«

Während Hefty noch unter Verweis auf die Rechtsextremen zugunsten von Orbán-Verständnis schrieb, könnte dieser Satz nun plötzlich auch für jene gelten. Schuld ist aber natürlich wieder die Linke, die aus solcher Kommentatorensicht schon bei den Sozialdemokraten beginnt: »Im Fall Haider hatte sich die vereinigte Linke Europas – auf Anstoß österreichischer Sozialdemokraten auf einer Holocaust-Konferenz – zu den Sanktionen gegen das Land entschlossen. An Österreich wurde ein Exempel statuiert, das bis heute nachwirkt. Wer schon vor der genauen Kenntnis des ungarischen Mediengesetzes den Entzug der Stimmrechte empfiehlt, der verstößt selbst gegen die ›Grundfesten der europäischen Zivilisation‹.«

Deutsche Rückendeckung

Ohne Rückendeckung der Europäischen Volkspartei und vor allem der deutschen Christdemokraten hätte Orbán seine Politik seit 2010 nicht machen können. Erst als er Ende 2011 die Unabhängigkeit der Nationalbank relativierte, begann sich in Deutschland auch im bürgerlichen Lager Unmut zu äußern.

So schrieb die FAZ am 4. Januar 2012 (»Gefahr durch wirre Wirtschaftspolitik«), mit seiner unvorhersehbaren Wirtschaftspolitik schade sich das hochverschuldete Ungarn nur selbst. »Das Land hat derzeit große Schwierigkeiten, seine Staatsschulden zu finanzieren. Zwei große Ratingagenturen haben in den zurückliegenden Wochen ungarische Anleihen auf Ramschniveau heruntergestuft. Zu diesem Urteil tragen die unberechenbare Wirtschaftspolitik, die unübersichtliche Budgetlage und der hohe Schuldenberg von vier Fünftel der Wirtschaftsleistung bei. (…) Eigenartig ist, daß die Regierung zwar einen Sparkurs verfolgt, für die Rückverstaatlichung von Unternehmen aber trotzdem Geld hat. Befremdlich ist auch der Umgang mit den für den Wohlstand so wichtigen ausländischen Geldgebern. Zwar wird um Auslandsinvestoren geworben. Doch verärgert die Regierung schon im Land tätige Unternehmen mit ihrer Wirtschaftspolitik derart, daß sich potentielle Kapitalquellen verschließen.« Auch hier wird wieder deutlich, daß nur an Teilen der Wirtschaftspolitik Kritik geübt wird, vor allem an den nationalen Komponenten, die auf eine gewisse Begrenzung der Aktivitäten des ausländischen Kapitals gerichtet sind, während zu den Maßnahmen im politischen Bereich Stillschweigen herrscht.

Die deutschen Konservativen verteidigen Orbán und behaupten, er sei ein ordentlicher Demokrat. So monierte kürzlich der in Budapest tätige Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans Kaiser, »Europa« habe sich auf Ungarn »eingeschossen«. Zur Verfassung etwa meinte er: »Von den Kritikern wird behauptet, das neue Grundgesetz untergrabe den demokratischen Rechtsstaat und schaffe die Republik ab. Es sei rückwärtsgewandt und öffne einer autoritären Herrschaft Tür und Tor. Bei Licht besehen ist der Text jedoch inhaltlich auf der Höhe der Zeit und unter demokratischen und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden.« Zum Mediengesetz erklärte er: »Die allermeisten kritisierten Bestandteile des Gesetzes haben sich in der Praxis freilich als unproblematisch entpuppt.«

Die Süddeutsche Zeitung dagegen betonte am 2. Januar 2012: »Die EU und ihre Mitgliederregierungen hatten schon vor einem Jahr die Warnungen vor dem Knebelgesetz für die Medien verschlafen. Jetzt tun sie wieder so, als gehe sie das alles nichts an. Die Europäische Volkspartei, der Fidesz angehört, gebärdet sich geradezu als Kongreß der Weißwäscher für den Autokraten in Budapest. Solidarität aber darf nicht nur in Geld- und Wirtschaftsfragen gelten, sie muß die demokratische Wohlfahrt der Völker mitbedenken.«

Wenn man länger über dieses Agieren nachdenkt, ergibt sich die Frage, ob es Leuten wie denen in der FAZ eigentlich nur um Ungarn geht. In dem oben zitierten Text von György Konrád findet sich auch die folgende Aussage: »Ungarn bietet auch den im Westen Europas existierenden Vorstellungen von einem starken Mann einen Stützpunkt.« Nun muß der »starke Mann« nicht unbedingt wörtlich genommen werden. Der Satz kann auch so gelesen werden: »den im Westen Europas existierenden Vorstellungen von der Errichtung eines rechtskonservativen, autoritären Regimes«.

Die Finanzgewaltigen kritisierten bereits, daß die Griechen im Mai 2012 »falsch« gewählt haben, weil sie die Schuldenpakt-Parteien abgewählt hatten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise kann Entwicklungen zur Folge haben, da man autoritäre Herrschaft wieder in breiterem Sinne benötigt. Umso besser, wenn sie durch Wahlen zustande gekommen ist. Und wenn sie schon mal ausprobiert wird. Etwa in Ungarn.

* Erhard Crome ist Politikwissenschaftler und Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik sowie Europapolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Anmerkung
  1. Carl Mars: Das Aufkommen des Rechtspopulismus in Finnland. Die Wahren Finnen, in: transform! Europäische Zeitschrift für kritisches Denken und politischen Dialog, Brüssel, Heft 8/2011, S. 119

Aus: junge Welt, Montag, 08. Oktober 2012


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