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"Natürlich bin ich wieder in Dresden dabei"

Nach Neonazi-Anzeige: Justiz verfolgt Abgeordnete, Ausschuß hebt ihre Immunität auf. Ein Gespräch mit Michael Leutert *


Michael Leutert ist Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, er ist Mitglied des Haushaltsausschusses.

Der Immunitätsausschuß des Bundestags hat am Donnerstag grünes Licht gegeben: Sie und Ihre Fraktionskollegin Caren Lay dürfen jetzt von der Staatsanwaltschaft Dresden angeklagt werden. Sind Sie vom Ausschuß angehört worden?

Das war die dritte Sitzung, die sich mit uns beschäftigte – auch daran durften wir nicht teilnehmen, obwohl es von der Geschäftsordnung her möglich gewesen wäre.

Die Justiz will Sie wegen Teilnahme an Protesten gegen den Naziaufmarsch in Dresden vor zwei Jahren vor Gericht stellen. Wie ist das damals in Ihrer Erinnerung abgelaufen?

Das Absurde ist, daß die Staatsanwaltschaft nicht von sich aus gegen uns ermittelt hat, sondern aufgrund einer Anzeige der Landsmannschaft Ostpreußen, einer Nazi-Vereinigung. Anlaß war, daß mehrere hundert Antifaschisten einen Zug von Nazis blockiert hatten. Nachdem dieser untersagt wurde und die Blockade sich auflöste, kesselte die Polizei die verbliebenen Teilnehmer ein – ich war schon nicht mehr dabei, ich erfuhr telefonisch davon. Die Personalien wurden aufgenommen, über 200 Leute bekamen ein Strafverfahren. Die Nazis hatten mein Foto in der Zeitung gesehen und mich als Abgeordneten der Linken angezeigt. Bei Caren Lay war das auch so.

Später bot die Justiz an, das Verfahren gegen Zahlung eines Ordnungsgeldes einzustellen. Was wir selbstverständlich abgelehnt haben.

Was erwartet Sie, wenn es zu einem Prozeß kommt?

Schwer zu sagen. Generell ist es ja so, daß die Gerichte in Sachsen mit allem scharf umgehen, was mit Antifaschismus zu tun hat – ich erinnere an das Urteil gegen Tim H., der zu 22 Monaten ohne Bewährung verurteilt wurde. Möglicherweise kommt eine Geldstrafe dabei heraus, die sich an unserem Einkommen als Abgeordnete orientiert – schätzungsweise zwischen 3000 und 5000 Euro.

Bisherige Verfahren in dieser Sache sind für die Staatsanwaltschaft allerdings nicht prickelnd gelaufen. Es gab einen Freispruch, ein Urteil wurde von der nächsten Instanz kassiert, in drei Fällen kamen sehr niedrige Tagessätze heraus. Das hat die Staatsanwaltschaft zu einem Kurswechsel veranlaßt: Sie bietet die Einstellung des Verfahrens an, wenn man sich schuldig bekennt. Ich denke aber nicht daran.

Der eigentliche Skandal ist doch, daß durch solche Justizakte Leute eingeschüchtert werden, die sich den Nazis in den Weg stellen.

Ihre Partei hat im Immunitätsausschuß mit »Nein« gestimmt. Wie haben sich SPD und Grüne verhalten? Prominente beider Parteien hatten doch auch an den Protesten teilgenommen, Wolfgang Thierse von der SPD zum Beispiel …

Das war eine große Enttäuschung für mich, alle anderen Parteien haben gegen uns gestimmt.

Der Beschluß des Ausschusses wird am Donnerstag vom Bundestagsplenum abgesegnet. Wird es eine Aussprache geben, in der Sie Ihre Positionen noch einmal klarstellen können?

Laut Geschäftsordnung ist das nicht möglich, die Betroffenen dürfen sich nur im Immunitätsausschuß äußern – aber nur, wenn der es zuläßt. In der Aussprache werden sich mit Sicherheit andere Linke zu Wort melden, eine Stellungnahme wird in der Fraktion vorbereitet.

Sie haben Ihren Wahlkreis in Sachsen. Wie beurteilen Sie das Agieren der Justiz dieses Bundeslandes?

In Sachsen hat sich in den vergangenen 20 Jahren eine Art Kartell aus Staatsanwaltschaft, Gerichten, Polizei und Justiz gebildet, das den Protest gegen Nazi-Umtriebe bekämpft. Ich bin in Mittweida großgeworden, weiß daher aus eigenem Erleben, welche Rolle die Rechten vor allem in sächsischen Kleinstädten spielen.

Seit der Wende wird eigentlich alles, was an alternativer oder an antifaschistischer Kultur da ist, nicht nur behindert, sondern sogar bekämpft. Das ist leider eine sächsische Besonderheit.

Am 13. Februar wird in Dresden wieder gegen den jährlichen Naziaufmarsch protestiert. Nehmen Sie teil?

Natürlich bin ich dabei, ich werde auch am 5. März in Chemnitz teilnehmen. Unsere Proteste bleiben ja nicht ohne Wirkung: Vor wenigen Jahren konnten noch über 5000 Nazis unbehelligt durch die Stadt marschieren, im vergangenen Jahr waren es noch knapp 2000. Und dieses Jahr werden es wahrscheinlich noch weniger sein – ich hoffe, daß die Nazis allmählich die Lust verlieren, nach Dresden zu reisen.

Interview: Peter Wolter

* Aus: junge Welt, Samstag, 02. Februar 2013


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