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Mehr Telefonabfragen als Demonstranten in Dresden

"Handygate" in Sachsen – Untersuchungsausschuss rückt näher

Von Hendrik Lasch, Dresden *

Die Dresdner Polizei hat nach den Protesten gegen Nazis am 19. Februar die Daten von fast hundertmal mehr Handynutzern abgefragt als bislang zugegeben. Das Vertrauen in die Aufklärungsbereitschaft der Minister ist bei der Opposition erschöpft.

Als am 19. Februar Rechtsextreme zum zweiten Mal binnen einer Woche durch Dresden laufen wollten, stellten sich ihnen viele Bürger bei Protesten und Blockaden entgegen – rund 15 000, so wurde später geschätzt. Diese Zahl erhellt die Dimension der Telefonüberwachung, mit der die Polizei an jenem Tag versuchte, vermeintlicher Straftäter habhaft zu werden. Bisher war bekannt, dass eine Sonderkommission mehr als eine Million Datensätze von Funkzellenabfragen auf den Tisch bekam, die belegen, mit welchen Handys im Stadtgebiet telefoniert oder SMS verschickt wurden. Nun weiß man, dass in satten 40 732 Fällen auch die zugehörigen Bestandsdaten der Handynutzer angefordert wurden, also Name und Anschrift.

Zwei Razzien der Polizei

Die Affäre um die Telefonüberwachung – schon als »Handygate« bezeichnet – erreicht damit immer größere Dimensionen. Bisher hatten die zuständigen Minister Markus Ulbig (CDU) und Jürgen Martens (FDP) in einem Bericht nur eingeräumt, dass Ermittler in 460 Fällen die persönlichen Daten der Telefonbesitzer abgefragt hatten. Durch eine Anfrage des SPD-Politikers Henning Homann kam nun heraus, dass sich diese Angabe nur auf die Verbindungsdaten bezog, die direkt wegen der Proteste am 19. Februar erhoben wurden.

Die Soko 19/2 erhielt aber auch Daten aus einem Ermittlungsverfahren, das seit längerem beim Landeskriminalamt läuft und sich gegen 16 angebliche Linksextremisten richtet. Ihnen werden Gewaltstraftaten gegen Nazis vorgeworfen, offenbar aber auch eine Rolle bei den Angriffen auf Polizisten am Rand der Demonstration. Der Vorwurf lautet auf Bildung einer kriminellen Vereinigung. In dem Verfahren gab es im April und Mai zwei Razzien – und wohl um den 19. Februar herum ebenfalls eine massive Handyüberwachung, bei der fast 900 000 Telefondaten ermittelt wurden. Zu diesen wurden, wie sich jetzt herausstellte, in den 40 732 Fällen die persönlichen Daten der Nutzer abgefragt.

Politiker der Opposition sind von den neuen Zahlen ebenso erschüttert, wie sie über den Umstand erbost sind, dass der wirkliche Umfang der Überwachungsaktion nur häppchenweise und stets erst nach Medienberichten eingeräumt wird. Homann sagte, die Datenauswertung weite sich »ins Endlose aus«. Der Staatsregierung warf er vor, einen »kompletten Scan aller engagierten Bürger« durchgeführt zu haben, die am 19. Februar in Dresden auf die Straße gegangen seien – vom friedlichen Blockierer bis zum Gemeindepfarrer. Rico Gebhardt, Landeschef der LINKEN, rügte in scharfen Worten fehlenden Aufklärungswillen der Minister. Und er betonte, es sei gegenüber Betroffenen und Parlament »in höchstem Maße ignorant«, die Affäre auszusitzen und gleichzeitig weiter mit den »rechtlich zweifelhaft erhobenen« Daten zu arbeiten.

Der grüne Innenpolitiker Johannes Lichdi moniert, die Polizei nutze eine Lücke im Gesetz: Während für die Abfrage von Verbindungsdaten die Genehmigung eines Richters nötig sei, dürften danach die persönlichen Daten der Handybesitzer auch ohne derartige Erlaubnis abgefragt werden. Lichdi erneuerte seine frühere Forderung, auch dafür einen Richtervorbehalt einzuführen. In Richtung von Innen- und Justizminister erklärte er, sie hätten »den letzten Rest Glaubwürdigkeit verspielt«.

Ferien nutzen den Ministern

Dass es die Opposition vorerst bei verbaler Schelte belässt und die Regierung nicht noch stärker unter Druck setzt, ist nur dem Umstand geschuldet, dass in Sachsen Parlamentsferien sind. Zur vollständigen Aufklärung der Affäre billigt die SPD-Abgeordnete Sabine Friedel den Ministern daher eine Frist von vier Wochen zu. Im September müsse aber, parallel zum bereits Anfang Juli beschlossenen Bericht des Datenschützers, ein vollständiger Bericht der Regierung vorliegen. CDU-Ministerpräsident Stanislaw Tillich solle zudem eine Regierungserklärung abgeben.

Das hatte die LINKE schon vor Wochen gefordert – aber vergebens. Zudem droht die SPD nun offen mit einem Untersuchungsausschuss. Und das Bündnis »Dresden nazifrei!« verlangt angesichts der inzwischen erreichten Dimension die Einsetzung einer – ebenfalls schon früher von der LINKEN vorgeschlagenen – unabhängigen Aufklärungskommission.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Juli 2011


"Es geht hier um die Angemessenheit"

Sächsischer Datenschutzbeauftragter beanstandet Auswertung der Handydaten von 40000 Personen. Gespräch mit Andreas Schurig **
Im Zusammenhang mit Demonstrationen und Blockaden gegen den Dresdener Neonaziaufmarsch im Februar 2011 haben die Ermittlungsbehörden Handydaten mit Namen und Adressen von mehr als 40000 Personen gesammelt und überprüft. In welcher Ausführlichkeit?

Es gab zwei Überprüfungsverfahren. Zunächst hat die Sonderkommission der Polizeidirektion in Dresden bei 138000 Verbindungsdaten in etwa 400 Fällen Bestandsdaten erhoben. Dabei geht es um Ermittlungen zum schweren Landfriedensbruch. Im zweiten Verfahren wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung wurden bei etwa 800000 Verbindungsdaten von rund 40000 Personen ebenfalls Namen und Adressen erhoben. In der Regel werden bei Funkzellenabfragen Datensätze folgenden Inhalts erhoben: Rufnummer des Anrufenden und Angerufenen, eine grobe Lokalisierung und alle Anrufe oder SMS zu diesem Zeitpunkt. In einem weiteren Schritt werden die Anschlußinhaber ermittelt.

Das Bündnis »Dresden Nazifrei« spricht von einer Hexenjagd und wirft den Ermittlungsbehörden vor, politisch motiviert zu handeln. Wie sehen Sie das?

Fragen der politischen Bewertung überlasse ich den Parteien und den betroffenen Personen. Ich prüfe nur, ob es einen datenschutzrechtlichen Verstoß gegeben hat. Da ich der Meinung bin, daß das hier der Fall ist, habe ich ein Beanstandungsverfahren eingeleitet. Es geht um die Frage: Sind diese Überprüfungen vom Umfang her verhältnismäßig? Solche Maßnahmen bedeuten einen Eingriff in die informationellen Persönlichkeitsrechte.

Eine große Anzahl von unbeteiligten Betroffenen wurde in diese Datenerhebung einbezogen: Ins Visier gerieten auch Anwohner und friedliche Demonstranten. Die Schwere der verfolgten Straftat hätte insofern zumindest abgewogen und in Bezug zum erforderlichen Schutz der Versammlungsfreiheit und der Zahl der Betroffenen gesetzt werden müssen. Das ist meiner Meinung nach nicht ausreichend geschehen.

Gefährdet solch ein Vorgehen von Ermittlungsbehörden die Demonstrationsfreiheit?

Ich möchte meine Beanstandung nicht nur auf diesen Aspekt fokussieren. Funkzellenabfragen richten sich grundsätzlich nicht nur gegen Beschuldigte. Deshalb hat der Gesetzgeber gewisse Vorbehalte eingebaut. Demnach haben solche Ermittlungen generell unter Abwägung der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen. Sie dürfen nicht zur Routine verkommen, gerade wenn es um das Ermitteln einer Straftat geht. Es geht hier um die Angemessenheit einer solchen Überprüfung.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar hat geäußert, daß nur, falls es sich um rund 40000 Beschuldigte handeln sollte, eine solche Abfrage von Daten zulässig wäre. Es ist ja wohl nicht zu erwarten, daß die Staatsanwaltschaft hier eine vermeintliche kriminelle Vereinigung von 40000 Personen verfolgt, oder?

Nein, bei weitem nicht. Mittlerweile ist es möglich, mehr Daten zu erheben als zu Beginn der Entwicklung des Handys. Deshalb geraten massenhaft Unbeteiligte in diese Erhebungen.

Ein weiteres Beispiel: 2005 gab es einen Überfall auf eine Sparkasse in Magdeburg. Durch die darauf folgende Funkzellenabfrage, die den Zeitraum einer Stunde umfassen sollte, wären viele Unbeteiligte erfaßt worden. Ebendies wurde gerichtlich für unzulässig erklärt.

Zurück zum Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung – angesichts der Begründung des Sprechers der Dresdner Staatsanwaltschaft äußerte das Bündnis »Dresden Nazifrei« den Verdacht, legitimer gesellschaftlicher Protest solle mit dem Agieren der Mafia gleichgesetzt werden ...

Lorenz Haase sprach von »legitimen Maßnahmen« wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Dennoch drängt sich mir die Frage auf, ob diese Maßnahme im Rahmen des Verfahrens verhältnismäßig ist.

Können Sie als Datenschützer hinreichend Einfluß nehmen – oder bedarf es der Kontrolle von Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei durch eine unabhängige Untersuchungskommission, wie es »Dresden Nazifrei« fordert?

Ich bin schon die unabhängige Kontrolle, möchte ich mal unbescheiden anmerken – aber freilich habe ich das gleiche Problem wie andere mögliche Kontrolleure. In einem laufenden Verfahren bin ich zur Geheimhaltung verpflichtet, und meine Beanstandung hat keine rechtlichen Folgen. Die kann nur eine Beschwerde vor Gericht erreichen. Andreas Schurig ist Datenschutzbeauftragter des Landes Sachsen

Interview: Gitta Düperthal

** Aus: junge Welt, 27. Juli 2011


Immer mehr Daten

Der Sachsenskandal weitet sich aus: Nach Funkzellenüberwachung wegen Brandanschlags auf Bundeswehrfahrzeuge 2009 millionenfache Speicherung

Von Markus Bernhardt ***


Die uferlose staatliche Überwachung in Sachsen nimmt kein Ende. Erst am vergangenen Wochenende war bekanntgeworden, daß im Falle der bespitzelten Antifaschisten, die sich am 19. Februar dieses Jahres an Massenblockaden gegen einen Neonazisaufmarsch in Dresden beteiligt hatten, nicht wie vom sächsischen CDU-Innenminister Markus Ulbig behauptet 460 persönliche Datensätze, sondern mehr als 40700 gespeichert wurden.

Am Donnerstag (28. Juli) wurde zudem das tatsächliche Ausmaß einer sogenannten Funkzellenabfrage der Dresdner Beamten aus dem Jahr 2009 bekannt. Infolge eines Brandanschlages auf Fahrzeuge der Bundeswehr, die auf dem Gelände einer Offiziersschule in Dresden abgestellt waren, hatte die Polizei etwa 1,1 Millionen Verkehrsdaten von Handynutzern erhoben und ausgewertet. Neben der Ruf- und Gerätenummer wurde, Angaben der Dresdner Staatsanwaltschaft zufolge, auch der Standort der Inhaber der Mobilfunktelefone gespeichert. Außerdem sollen seitens eines Mobilfunkbetreibers mehr als 80000 personenbezogene Daten an die Beamten übersandt worden sein. Die Daten seien im April 2009 erfaßt worden, weil die Täter ihr Vorgehen im Umfeld des Tatorts per Mobiltelefon koordiniert haben könnten, heißt es zur Begründung.

Das sächsische Landeskriminalamt (LKA), welches mit den Ermittlungen bezüglich des Brandanschlages betraut ist, hatte sich – fernab der Überwachung der Telekommunikation – über 162000 Kassenbons der Baumarktkette Obi kommen lassen. Die unbekannten Täter, so die Begründung, hätten einen ungezündeten Brandsatz in einer schwarzen Kiste zurückgelassen, die es nur bei besagtem Baumarkt zu kaufen gibt. Obwohl das LKA bis heute keine Tatverdächtigen ermitteln konnte, sind die Datensätze nach wie vor bei den Behörden gespeichert und wurden nicht gelöscht.

Heftige Kritik an den staatlichen Verfolgungsbehörden übt Klaus Bartl, rechtspoltischer Sprecher der sächsischen Linksfraktion. »Es ist ungeheuerlich, mit welcher Selbstverständlichkeit mittlerweile in Sachsen Eingriffe in verbriefte Grundrechte wie etwa das Fernmeldegeheimnis vorgenommen werden«, kritisierte der Landtagsabgeordnete am Donnerstag auf Anfrage von junge Welt. Die millionenfache Überwachung sei mittlerweile zum Alltagswerkzeug der Behörden verkommen und würde immer exzessiver ausgeweitet, so Bartl.

Sowohl bei den Ermittlungen wegen der Brandanschläge auf die Bundeswehrfahrzeuge vor zwei Jahren als auch bei jenen gegen die antifaschistischen Blockaden hatten die Polizeibeamten – fernab der mehreren tausend persönlichen Datensätze – jeweils mehr als eine Million Verbindungsdaten von Mobilfunktelefonen gespeichert.

www.dresden-nazifrei.com

*** Aus: junge Welt, 29. Juli 2011


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