Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Praxis" erlebte Angriff mit Ansage

Dresdner Hausprojekt wirft nach Nazi-Attacke am 19. Februar der Polizei Tatenlosigkeit vor

Von Hendrik Lasch, Dresden *

Während in Dresdens Innenstadt am 19. Februar Tausende Bürger die Nazis am Demonstrieren hinderten, griffen militante Rechte das Hausprojekt »Praxis« in Löbtau an – unter den Augen der Polizei, wie Bewohner klagen.

Die Spuren sind noch sichtbar. Auf dem Gehweg vor dem Gründerzeit-Haus im Dresdner Stadtteil Löbtau liegen noch immer Glasscherben; die Fenster im Erdgeschoss sind allesamt zerschlagen – zumindest die äußeren Scheiben. Dahinter ist dünner Maschendraht gespannt, oft vor Spanplatten. Die Bewehrung »hat Schlimmeres verhindert«, sagt Robert (Name geändert). Trotzdem ist es empfindlich kühl in dem Ladengeschäft an der Ecke, in dem einst auch ein Zahnarzt praktizierte, was dem Wohnprojekt den Namen gab: »Die Praxis« heißt das Haus, dessen Mauer Bilder verzieren und Sprüche wie: »Im Spiegel ist es immer Sonntag.«

Lebenslustig und etwas schräg – so lassen es die Bewohner der Praxis eigentlich gern angehen. In ihrem Haus finden Konzerte, Vorträge und Workshops statt, allesamt selbst organisiert. Wöchentlich hat eine Volksküche geöffnet. Das basisdemokratisch organisierte Projekt will Kristallisationspunkt sein im Stadtteil, in dem Studenten und Künstler leben, der aber weniger schick ist als Dresdens Neustadt.

Das man weit jenseits des Neustädter Elbufers liegt, wurde dem Haus und seinen Bewohnern vergangenen Samstag fast zum Verhängnis. Dresdens Altstädter Seite wurde von den Ordnungsbehörden zur »Nazi-Zone« erklärt, wie Robert formuliert: Hier sollten die Kundgebungen stattfinden, bei denen die rechte Szene das Gedenken an die Zerstörung Dresdens missbraucht. Weil viele Demonstranten jedoch die Innenstadt belagerten, stiegen angereiste Nazis schon im Dresdner Westen aus Bussen und wurden in die Stadt geleitet. Hunderte zogen auch durch Löbtau – und direkt an der »Praxis« vorbei.

Was sich dabei abspielte, ist auf einem Video im Internet zu sehen: Wie entfesselt werfen Vermummte Steine, gehen mit Stangen und einem Schneeschieber auf die Fenster los. Ein Stein landete in einem Kinderzimmer; »die Scherben lagen im Bett«, sagt Robert. Minutenlang attackiert die Horde. Weil Fenster nicht nachgaben und die Bewohner sich vom Hof aus wehrten, ließen sie schließlich ab.

Für Entsetzen sorgte nach dem Angriff nicht nur die Brutalität der Angreifer, sondern auch die Zurückhaltung der Polizei. Insassen dreier Streifenwagen, die den Nazitrupp eskortierten, regelten nur den Verkehr. Zwar hätten die Beamten wenig gegen die Meute ausgerichtet. In Sichtweite stand aber »eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei« – tatenlos, sagt Robert. »Die Polizei bildete einen Ring und wartete, bis die Nazis fertig waren«, sagt er ernüchtert.

Dabei hätte die Ordnungsmacht wissen müssen, dass an dieser Stelle Unheil droht. In der Nacht zum 13. Februar 2010, am Jahrestag der Zerstörung Dresdens, griff erstmals eine Truppe Rechter das Wohnprojekt an. Am 20. April, zu Hitlers Geburtstag, wurden Mauern und ein angrenzender Spielplatz mit Hakenkreuzen und anderen NS-Symbolen besprüht. Bisheriger Tiefpunkt war ein Brandanschlag Mitte August, bei dem ein Zimmer im Parterre in Flammen aufging. Der Bewohner war glücklicherweise auf einem Konzert, sagt Robert: »Er hätte sich kaum vom Hochbett retten können.«

Täter sind bislang für keinen der Übergriffe ermittelt – was man in der »Praxis« mit Sarkasmus kommentiert. Nach dem Samstag hat man nun eigene Recherchen angestellt und auf Videos zwei Täter bereits ermittelt: bekannte Rechte aus Köln. Demnächst sollen Anzeigen gestellt werden – gegen Angreifer, aber auch die tatenlose Polizei. Diese wiederum wird angesichts des gut dokumentierten Angriffs aktiv; gestern wurde mitgeteilt, dass die Soko REX ermittelt. 2012, heißt es in der »Praxis«, sei die Polizei »im Zugzwang«. Es sei ja keinesfalls sicher, dass es wieder bei zersplittertem Glas bliebe.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Februar 2011


Zurück zur Seite "Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus"

Zurück zur Homepage