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Höchster Grad von Frechheit erreicht

Bundes- und Länderbehörden boykottieren Parlamente bei Aufklärung des Naziterrors

Von René Heilig *

Gestern beschloss die Regierung den Aufbau einer Datei zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Darin sollen Informationen des Verfassungsschutzes, der Polizei und des militärischen Abschirmdienstes zusammengefasst werden. Die Merkel-Runde erwartete Lob für rasche Reaktionen auf den Terror des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU).

Keinen Grund für Lob - im Gegenteil! Was sich gestern parallel zur Kabinettsrunde im Bundestagsinnenausschuss abspielte, bewertet Jan Korte von der Linksfraktion als »höchsten Grad der Frechheit«. Die Entrüstung über das Auftreten des Generalbundesanwaltes Harald Range, der die Vizechefs des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundeskriminalamtes im Schlepptau hatte, war parteiübergreifend.

Eigentlich sollten die Herren plus zwei Staatssekretäre aus dem Innen- und dem Justizressort über den Fortgang der Ermittlungen zum Nazi-Terror-Netzwerk NSU berichten. Doch sie verweigerten jegliche Auskunft. Von schwarz bis grün - serienweise platzte Abgeordneten der Kragen, als die Vorgeladenen es sogar ablehnten, in einer geheim eingestuften Sitzung Erkenntnisse vorzulegen. Sie würden ihr Schweigen allenfalls im - generell geheim tagenden - Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) brechen.

Dreister konnte die Missachtung des zuständigen Innenausschusses kaum ausfallen. Sie legt den Schluss nahe, dass die deutschen Sicherheitsbehörden allerlei Mitschuld an der Nazi-Mord-Orgie zu verbergen haben. Um die Vorgänge um den NSU aufzuklären, sollen zumindest drei parlamentarische Untersuchungsschüsse - in Sachsen, in Thüringen und auf Bundesebene - installiert oder mit neuen Vollmachten ausgestattet werden.

Die gestrige Sitzung machte erneut klar, dass Beamte aus Bundes- und Landesbehörden auch dort die Autorität von Abgeordneten missachten wollen. Generalbundesanwalt Harald Range hatte das unlängst bereits in einem Schreiben an das Thüringer Parlament deutlich gemacht. Darin beharrte er gleichfalls nach Gutsherrenart darauf, jegliche Auskünfte zu verweigern. Unter anderem weil Bundesangelegenheiten nichts für die Ohren von Landtagsabgeordneten seien. Gestern in Berlin missbrauchten die Behördenchefs die Idee des Föderalismus in umgekehrter Weise. Die Landesbehörden gestatten nicht, dass ihre Angelegenheiten auf Bundesebene beraten werden.

Bei ihrem Boykott haben die Behördenchefs weiteste Rückendeckung von den Innenministern. Ende Dezember, als Uwe Schünemann (CDU), Innenminister von Niedersachsen, Chef der Innenministerkonferenz war, lehnte er sogar Auskünfte an das PKGr ab. An dessen Chef Thomas Oppermann (SPD) schrieb er: »Die parlamentarische Kontrolle der Tätigkeit der Exekutive in den Ländern obliegt ausschließlich den Landesparlamenten.«

Derartige Aufklärungsverweigerungen lassen sich auch nicht durch die Gesetzesfassung für die Datei abschwächen. Zumal die bereits seit Tagen von allen Seiten kritisiert wird. Es handelt sich ohnehin nur um eine leicht umformulierte Fassung des Antiterrordatei-Gesetzes, in dem islamistisch geprägte Gefährder aufgelistet werden.

Nun sollen alle Personen erfasst werden, »bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie rechtsextremistische Bestrebungen verfolgen und in Verbindung damit zur Gewalt aufrufen«. Hinzu kommen jene, die »die Anwendung von rechtsextremistisch begründeter Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Belange unterstützen, vorbereiten oder durch ihre Tätigkeit vorsätzlich hervorrufen«.

Der per Computer leicht herzustellende Entwurf fällt durch einige Merkwürdigkeiten auf . So hat man im Paragraf 1 den Bundesnachrichtendienst und das Zollkriminalamt von der Aufklärung und Bekämpfung des Rechtsextremismus »befreit«. Das muss verwundern. Denn es besteht kein Zweifel darüber, dass die NSU-Terroristen nicht nur im Geiste eng mit der global agierenden, rechtsextremistischen Blood&Honour-Gruppierung verbunden waren. Klar ist auch, dass diese Terrororganisation - so wie die Mitglieder der »Zwickauer Zelle« - aller Wahrscheinlichkeit nach - eng verwoben ist mit der Organisierten Kriminalität. Es geht um Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sowie Geldwäsche.

Das übersteigt den Horizont von Verfassungsschützern und militärischen Abschirmern. Auch wenn letztere sich derzeit gewaltig ins Zeug legen, um NSU- und NPD-Verbindungen nach Südafrika zu ergründen.

* Aus: neues deutschland, 19. Januar 2011


Praxis Eisenbart

Von René Heilig **

Das Kabinett hat die Einrichtung einer Datei gegen Rechtsextremismus beschlossen. Inhaltlich ist die wahrlich kein großer Wurf. Doch nicht deshalb erinnert der Obrigkeitsaktionismus an Dr. Eisenbart. Der, so weiß man seit Kindertagen, kuriert die Leut' nach seiner Art. Kann machen, dass die Blinden gehn und dass die Lahmen wieder sehn.

Wer - wie die für's genaue Hinsehen gegründete Behörden samt angeschlossener Regierungen verschiedener Couleur - die Augen vor rechtem Extremismus und Terrorismus verschließt, dem hilft auch keine neue Datei. Der Verfassungsschutz und andere Dienste haben mehr als genug Instrumente und Kompetenzen zur Bekämpfung rechten Terrors - nur sie haben sie nicht eingesetzt. Oder sogar missbraucht.

Konsequenzen sind zu ziehen, um Antifaschismus zur stabilen Feste der Gesellschaft zu machen. Auch wenn man das bei der Vorbereitung der LINKEN auf den Bundestags-Untersuchungsausschuss noch nicht so recht spüren mag: Kaum vorstellbar, dass sich die LINKE drinnen samt der Linken draußen im Kampf um Aufklärung und Anstand von irgend jemandem übertreffen lässt. Sonst besteht die Gefahr, dass man die Demokratie statt in der Notaufnahme in der »Praxis Eisenbart« operiert.

** Aus: neues deutschland, 19. Januar 2011 (Kommentar)


Speichert die Faschisten!

Zentrale Verbunddatei gegen »Rechtsextremisten mit Gewaltbezug« soll Erkenntnisse der Polizei und der Inlandsgeheimdienste koordinieren

Von Sebastian Carlens ***


Die Neonazi-Verbunddatei ist beschlossene Sache: Am Mittwoch, zehn Wochen nach dem Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle, hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Einrichtung einer zentralen Datei für rechte Gewalttäter angenommen. Informationen der Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz sowie der Bundes- und Landeskriminalämter sollen hier »automatisiert« erfaßt werden, teilte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) mit.

Ohne einen klaren »Gewaltbezug« soll jedoch kein Neonazi im Speicher landen. Dieser könne in Form von einschlägigen Vorstrafen gegeben sein, aber auch durch Aufrufe zur Gewalt. Erfaßt wird für höchstens zehn Jahre, gelöscht werden könne aber auch früher, schränkte Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamtes, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Friedrich und Verfassungsschutzchef Heinz Fromm ein. Im Gegensatz zum Vorbild der Anti-Islamismus-Datenbanken sollen Bundesnachrichtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) ihre Informationen jedoch nicht automatisch in die Verbunddatei einspeisen.

Wie viele der rund 10000 vom Verfassungsschutz gezählten »gewaltbereiten Rechtsextremisten« in der neuen Datei landen werden, konnte Bundesamtschef Fromm nicht abschätzen. Der Passus »Gewaltbezug« schränkt nicht nur den Kreis der zu Erfassenden ein, sondern ist auch Auslegungssache: fraglich, wie viele der nun als Unterstützer des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) festgenommenen Personen in der Verbunddatei gelandet wären, wenn das Instrumentarium schon früher bereitgestanden hätte. Ein eindeutiger »Gewaltbezug« läßt sich aus den propagandistischen Aktivitäten einzelner Neofaschisten, gerade der führenden Kader, oft nur schwer nachweisen. In der Ausnutzung juristischer »Grauzonen« haben Neonaziaktivisten und ihre Anwälte mitunter eine gewisse Meisterschaft erlangt.

Ob perfektionierte Datenerfassung die passende Antwort auf Rechtsterrorismus ist, darf darüber hinaus bezweifelt werden: Nicht Mangel an Informationen – die Täter und ihr Umfeld waren sämtlich seit spätestens 1998 aktenkundig –, sondern Konkurrenz der Behörden und eine ausschließlich ideologisch motivierte Unterschätzung rechten Gewaltpotentials haben es den NSU-Terroristen ermöglicht, 13 Jahre unerkannt quer durch das Land zu morden. Die rechte Terrorwelle hätte, auch mit dem Wissen von 1998, verhindert werden können.

*** Aus: junge Welt, 19. Januar 2011


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