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Die politische "Mitte" rückt nach rechts

Von Christoph Butterwegge* (Universität Köln)

Ob »Doppelpaß«, »Green Card« oder »deutsche Leitkultur«, die etablierten Parteien greifen immer mehr Themen auf, die zuerst nur in ultrarechten Kreisen erörtert worden sind. Wellen rassistisch motivierter Gewalt stehen im Zusammenhang mit öffentlichen Debatten um Zuwanderung und Asylpolitik

Argumentationsmuster rechter bzw. rechtsextremer Strömungen beziehen sich häufig auf Diskurse der »Mitte«. Diese »Mitte« wiederum greift zunehmend Problemstellungen auf, die zunächst in ultrarechten Kreisen erörtert worden sind, weshalb ich die These vertrete, daß es immer mehr Überlappungen zwischen Themen der Rechten und jenen der »Mitte« gibt. Angesichts des Bundestagswahlkampfes stellt sich die Frage, ob der Rechtsextremismus, von dem sich alle etablierten Parteien distanzieren, ein Rand(gruppen)problem oder ein Phänomen der Mitte ist. Unabhängig davon, ob man unter der Mitte eine Position genau zwischen »links« und »rechts«, zwischen »oben« und »unten« oder das gesellschaftliche Machtzentrum versteht, entscheidet die Antwort darüber, welche Maßnahmen zur Bekämpfung rechtsextremer Strömungen und Bestrebungen taugen.

Zum Randproblem umgedeutet

Die öffentlichen Debatten über den »Extremismus« begegnen dem Problem eines zunehmend offener, offensiver und brutaler agierenden Rassismus bzw. Nationalismus fast ausschließlich ereignisfixiert, sensationslüstern und entweder banalisierend oder hysterisierend. Nicht die häufig spürbare moralische Empörung über furchtbare Gewalttaten ist fragwürdig, wohl aber der vielfach unreflektierte und opportunistische Umgang damit. Diskussionen über Angriffe auf Migrantinnen und Migranten sind keineswegs frei von widersprüchlichen Deutungen, Verkürzungen und Bemühungen um eine politische Instrumentierung, wie man überhaupt den Eindruck gewinnt, daß in der politischen wie der Fachöffentlichkeit häufiger Entschuldigungen als Erklärungen für rassistische Gewalttaten gesucht werden.

Im Mittelpunkt des Interesses standen Themenkomplexe wie »Jugendgewalt«, fremdenfeindliche Übergriffe und Hetzjagden, antisemitische Vorfälle (Schändungen jüdischer Friedhöfe und von Synagogen) oder die Forderung nach einem Verbot der NPD. Weitgehend unberücksichtigt blieben die politisch-sozialen Strukturbedingungen für Rechtsextremismus, Rassismus und Nationalismus. Eine monokausale Reduzierung des Problems auf seine verfassungsrechtlichen oder jugend- oder gewaltspezifischen Aspekte verengt den Blick auf sichtbare Phänomene und verhindert somit, daß analytische Erkenntnisse in bezug auf die Ursachen des Rechtsextremismus gewonnen werden.

Rechtsextremismus wird als »Rand«phänomen im doppelten Wortsinn - als Problem marginalisierter Gruppen einerseits und als politische Marginalie andererseits - oder sogar als »Protest«phänomen behandelt, das sich gegen die ganze Gesellschaft, ihre Führungskräfte bzw. den parlamentarisch-demokratischen Staat richtet. Dadurch entlastet sich die »Mitte« und delegiert die Verantwortung für »extremistische Auswüchse« oder rechte, »fremdenfeindliche« Gewaltexzesse an »die Jugend« oder »die Skinheads«. Sie selbst trifft folglich keine Schuld mehr an rechtem Terror und rassistischen Übergriffen, die schon rein terminologisch zu einer bloßen »Abwehrreaktion« sozial benachteiligter Gruppen am untersten Ende der Schichtungshierarchie entschärft werden. Neben dem rechtsextremen Parteienspektrum avancierte in der öffentlichen Debatte die sogenannte Skinheadszene zum Identifikationsobjekt für Ansätze zur Erklärung der Rechtsentwicklung. Die gesellschaftlichen Ethnisierungstendenzen wurden jedoch nicht kritisch analysiert, sondern durch die öffentliche Fokussierung auf das Thema »Jugend und Gewalt« in den Hintergrund gedrängt. Zitiert sei eine Zeitungsmeldung, die so tut, als handle es sich um eine Modifikation unpolitischer, an Phänomene im Tierreich erinnernder Rivalitäten in der männlichen Adoleszenz: »,Revierkämpfe‘ wurden unter Heranwachsenden auch in früherer Zeit zuweilen mit den Fäusten ausgetragen. Doch wenn aus ,Langeweile, Frust und Haß‘ geschlagen, getreten oder gar getötet wird, dann sind Tabugrenzen überschritten, taugen alte Maßstäbe nicht zur Erklärung.« (Weser-Kurier, 29.1.2001)

Extremismustheorie

Ob radikal gegen rechts oder militant rassistisch - aus Sicht des Verfassungsschutzes und der Extremismusforschung werden linke und rechte Szenen ungeachtet ihrer politischen Wertmaßstäbe gleichgesetzt. Im Zentrum einer solchen ideologisch motivierten Zuschreibung steht der Verweis auf ein den »politischen Rändern« gleichermaßen zugeordnetes Gewaltpotential. Rassistische Gewaltakte werden zu mehr zufälligen Ereignissen, die - zumal sie häufig unter Alkoholeinfluß stattfinden - Eventcharakter haben, und damit systematisch verharmlost. Neben dem Phänomen alltäglicher rassistisch motivierter Gewalt ohne organisierten politischen Bezugsrahmen weisen diverse in »Freien Kameradschaften« organisierte rechtsextreme Skinheadszenen und andere Gruppen, etwa die sogenannten Hammerskins, jedoch sowohl straffe Organisationsstrukturen als auch einen programmatischen Nazibezug auf. Neonazistische Rechtsrock-Netzwerke wie »Blood & Honour« oder militante Neonazigruppen wie die »Skinheads Sächsische Schweiz« (SSS) wurden daher verboten. Bei der zuletzt genannten Vereinigung handelte es sich um eine Terrorgruppe, die Waffen und Sprengstoff besaß; sie rekrutierte sich nicht etwa aus Modernisierungsverlierern, sondern aus »angesehenen Bürgern« - vom Handwerksmeister über den Bankkaufmann bis zum Gemeinderat. Unter der Überschrift »Nazis aus der Mitte der Gesellschaft« schrieb Peter Gärtner am 6. April 2001 in der Hersfelder Zeitung: »Sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft und gehen ganz normalen Berufen nach.«

Die wissenschaftliche Konzentration auf die Extreme lenkt von der Mitte und ihrer Verantwortung für die politische Entwicklung des Landes ab. Extremismusforscher blenden den historischen Entstehungszusammenhang und die Rolle des Staates bei der Entwicklung von Rechtsextremismus aus. Sie analysieren Personen, Organisationen und Ideologien, ignorieren aber die Reaktion von Institutionen. Extremismustheoretiker behandeln den Rechts- wie den Linksextremismus primär als Gegner der politischen bzw. Staatsordnung, nicht als ein soziales Phänomen, das in der Gesellschaft wurzelt. Sie setzen auf eine »wehrhafte Demokratie«, die Extremisten von links und rechts nicht an ihrem Engagement hindern, aber aus dem politischen Machtzentrum heraushalten soll; eine Maßgabe, die sich schon angesichts der in Europa seit den 1990er Jahren entstandenen Bündnisse zwischen den Volksparteien und rechtspopulistischen, separatistischen oder auch rechtsextremen Strömungen als kontraproduktiv erwiesen hat.

»Extremismus«-Forscher geben sich sachlich-objektiv, rein wissenschaftlich und nüchtern-neutral; ihre Relativierungen dienen aber nicht nur der Diskreditierung antifaschistischen Engagements, sondern auch der Abwehr von Kritik an strukturellem Rassismus. In einem solchen argumentativen Kontext werden institutionelle Einschränkungen von Minderheits- und Bürgerrechten als notwendig zum Schutz vor Rechtsextremismus interpretiert. Daß neben den Publikationen des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz auch die Ergebnisse der Extremismusforschung ganz eindeutig politisch motiviert sind, zeigt die Kooperation ihrer führenden Repräsentanten mit Rainer Zitelmann, einem Wortführer der sogenannten Neuen Rechten.

Umstritten ist auch die Bezeichnung »Extremismus der Mitte«, weil sie zwar auf die soziale Basis des Phänomens bzw. auf die bürgerliche Herkunft seiner Hauptprotagonisten verweist, jedoch seine Richtungsbezogenheit und Wechselbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie negiert. Termini wie »Neue Rechte« und »Extremismus der Mitte« dokumentieren die zunehmende Unsicherheit der (Fach-) Öffentlichkeit in bezug auf Wesen, Wurzeln und Ausdrucksformen eines sich wandelnden Phänomens.

Entpolitisierung der Debatte

In der Fachdiskussion wird heute zunehmend anerkannt, daß Fremdenfeindlichkeit, Rassismus bzw. rechtsextreme Tendenzen, wie sie im vereinten Deutschland feststellbar waren und sind, nicht losgelöst von Diskursen der Mitte begriffen werden können. Exemplarisch sei hier nur die häufig zitierte Bemerkung Wilhelm Heitmeyers genannt, Rechtsextremismus entwickle sich »aus der Mitte der Gesellschaft« heraus. Bezogen auf die seit dem Sommer 2000 geführte Debatte über den organisierten Rechtsextremismus, seine Ursachen und Erfolg versprechende Gegenstrategien stellt Heitmeyer fest: »Die aktuelle Diskussion ist defensiv und hechelt den rechtsextremen Gruppen hinterher. Man setzt am Ende der Entwicklungsprozesse von menschenfeindlichen Einstellungen an, die in die Wählerschaften der demokratischen Parteien hineinragen und auf die man bei knappen Wahlentscheidungen angewiesen ist.«

Ethnisierende Zuschreibungen und nationalistische Positionen sind stärker in die politische »Mitte« der Gesellschaft gerückt. Daher hat der viel beschworene »Konsens der Demokraten« gegen den grassierenden Rechtsextremismus auch eine problematische Note. Denn die dringend notwendige Abwehr von Rechtsextremismus, Rassismus und Nationalismus kann nur Wirkung zeigen, sofern die Bekämpfung seiner strukturellen Ursachen nicht vernachlässigt wird. Wenn es allerdings um die eigene Mitverantwortung an exzessivem Rassismus sowie Auswüchsen rechtsextremer Militanz geht, wandelt sich der öffentlich proklamierte Antifaschismus der etablierten Politik zu völliger Ignoranz bzw. Verweigerung. »Ich halte nichts von der These, daß der Extremismus aus der Mitte kommt«, bekundete etwa Innenminister Otto Schily, im Rahmen eines Zeit-Interviews danach gefragt, ob das Gerede über die »deutsche Leitkultur« die Übergriffe auf Ausländer mit hervorbringe und dem Rechtsextremismus Vorschub leiste.

In demselben Interview warb Schily, auf Integrationsprobleme der türkischen Minderheit (Stichwort: Berlin-Kreuzberg) und Tendenzen zur Ghettoisierung angesprochen, zwar für all jene Migranten um Verständnis, die, wenn sie nach Deutschland kommen, zu Menschen mit der ihnen vertrauten Sprache und denselben Gewohnheiten ziehen. Er fügte allerdings hinzu: »Das ist übrigens eine Eigenschaft, die auch dem deutschen Volkscharakter nicht fremd ist. Deutsche haben in Übersee auch immer die Nähe zu Deutschen gesucht.« Mit einem Begriff wie »deutscher Volkscharakter« leistet man der Ethnisierung sozialer Verhaltensweisen selbst dann Vorschub, wenn er im Rahmen der Argumentation für Migration und multikulturelles Zusammenleben benutzt wird. Rechtsextremismus, so zeigen manche Erklärungen, wird - herausgelöst aus seinem politischen und gesamtgesellschaftlichen Kontext - als etwas »Fremdes« begriffen. »Rechts« oder »rechtsextrem« sind demnach nur die »Ewiggestrigen« oder die »gewaltbereiten Jugendlichen«, die »Skinheads« oder Parteien wie die NPD. Auf solche wahrnehmbaren - besser: nicht mehr zu übersehenden - Erscheinungsformen des Rechtsextremismus beschränkt sich die öffentliche und institutionelle Auseinandersetzung mit ihm.

Massenmedien beziehen sich dabei meist auf besonders spektakuläre Vorfälle oder Gewaltverbrechen, um mittels dämonisierender Berichterstattung in entpolitisierender Form die »Abartigkeit« und »Andersartigkeit« der Rechtsextremisten hervorzuheben. Eine derartige Entpolitisierung der Debatte drängt die strukturellen Bedingungen von Entstehung bzw. Entfaltung rassistischer Haltungen und für deren systematische Verbreitung in den Hintergrund. Zugleich werden Bedrohungsszenarien im Kontext von Zuwanderung entworfen, die Ressentiments und Abwehrhaltungen gegenüber Migranten und Flüchtlingen erzeugen. Dabei ist es gerade die Umdeutung sozioökonomischer Krisenprozesse in ethnische Konfliktkonstellationen, welche dem Rassismus argumentativ Nahrung gibt. Hier spielt die Boulevardpresse eine besonders unrühmliche Rolle, aber auch Journalisten der seriösen Medien werden ihrer Verantwortung nicht gerecht. Wellen rassistisch motivierter Gewalt und rechtsextremer Anschläge stehen im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion um (Möglichkeiten bzw. Grenzen der) Zuwanderung und (Probleme der) Asylpolitik. Rechte Straftäter können sich - teilweise nicht ohne Grund - als Vollstrecker eines breit bekundeten »Volkswillens« fühlen, was durch entsprechende Erklärungen und Stellungnahmen etablierter Politiker unterstrichen wird. Die immer wieder behauptete Weltoffenheit scheint auf für den »eigenen« Wirtschaftsstandort bzw. die nationale Kapitalakkumulation »Nützliche« beschränkt zu sein; den oft als »Sozialschmarotzer« oder »Parasiten« diffamierten Asylbewerber(inne)n schlägt jedoch eine wachsende Ablehnung entgegen.

Täter-Opfer-Umkehrung

Rassistisch motivierte Gewalttaten vollziehen sich in einem gesellschaftlichen Klima, das durch Horrormeldungen über den demographischen Wandel (»Vergreisung« und »Schrumpfung« der Bevölkerung) einerseits sowie Auseinandersetzungen über die Formen der Zuwanderung und des interkulturellen Zusammenlebens andererseits geprägt ist. In den öffentlichen Debatten darüber droht eine zunehmende Ethnisierung sozialer Beziehungen und ökonomischer Konflikte. Typisch hierfür sind Kontroversen um die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts (»Doppelpaß«), Initiativen zur Anwerbung ausländischer Fachkräfte (»Green Card«) sowie von den Zuwanderern erwartete Integrationsleistungen (Anpassung an die »deutsche Leitkultur«).

Einerseits beziehen sich Neonazis und andere Rechtsextremisten bei ihrer Argumentation, Agitation und Propaganda auf Positionen der Mitte. Umgekehrt greift diese zunehmend Problemstellungen auf, die zuerst nur in ultrarechten Kreisen erörtert worden sind, weshalb meine Hauptthese lautet, daß es immer mehr Überlappungen bzw. ideologische Schnittmengen zwischen Themen der Rechten und solchen der Mitte gibt. Für die Eskalation rechter Aggression wurden teilweise nicht die Täter, sondern die Opfer von Brandanschlägen und Übergriffen auf Migranten selbst verantwortlich gemacht. So schrieben Trierer Wissenschaftler, nachdem sie Erklärungsmuster für fremdenfeindliche Gewalt empirisch getestet hatten: »Die Gewalt hat etwas mit unverarbeiteten Einwanderungsschüben zu tun. Eine singuläre Situation, nämlich die Überforderung der Kommunen durch zwei sich überlappende Einwanderungswellen (der Aussiedler und der Asylbewerber) hat zu Konflikten geführt, die nun in einer zweiten Phase die Konstitution einer fremdenfeindlichen Bewegung in Deutschland möglich machen.« Werner Bergmann sah Versuche zur »Protestmobilisierung von rechts« gleichfalls in eine soziokulturelle Bewegung münden, die sich aus der persönlichen »Erfahrung von Fremdheit im Zuge massenhafter Migrationsprozesse« speise.

Die im Zeichen der Globalisierung eher noch zunehmende Migration erscheint nicht als Auslöser, sondern als Ursache gewalttätiger »Abwehrreaktionen«, denen in Wahrheit die Mobilisierung entsprechender Ressentiments durch Medien und etablierte Politik vorausgingen. So hat Anne Claire Groffmann im Rahmen ihrer Analyse der kampagnenartig zugespitzten Asyldiskussion 1991/92 überzeugend nachgewiesen, daß die jugendlichen Gewalttäter von der Union und ihren publizistischen Helfern in doppelter Hinsicht funktionalisiert wurden: »Zum einen dienten sie als Beweis dafür, wie die Zuwanderung die Bevölkerung in eine Notlage gebracht habe. Zum anderen lenkte die starke Stigmatisierung von der inhaltlichen Nähe ab und stellte eine scheinbar klare Distanz zwischen den Argumenten der Unionsparteien und den Taten der Jugendlichen her.«

* Prof. Dr. Christoph Butterwegge leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich erschienen von ihm die Bücher »Rechtsextremismus« im Verlag Herder, Freiburg i. Br. 2002 (191 Seiten, 9,90 Euro) und »Themen der Rechten - Themen der Mitte. Zuwanderung, demographischer Wandel und Nationalbewußtsein« bei Leske & Budrich, Opladen 2002 (288 Seiten, 14,80 Euro).
Christoph Butterwegge gehört auch zu den immer wieder gern gesehenen Referenten bei den Friedenspolitischen Ratschlägen in Kassel.

Aus: junge welt, 19. Juni 2002



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