Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Antisemitismus, Rassismus und die Diskriminierung von Minderheiten vergiften das gesellschaftliche Zusammenleben"

Im Wortlaut: Erklärung des Deutschen Bundestages zum Antisemitismus

Der Deutsche Bundestag hat am 11. Dezember 2003 jede Form des Antisemitismus einhellig verurteilt. "Antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben keinen Platz in Deutschland", heißt es in der einstimmig verabschiedeten Erklärung. Es gelte, "die besondere Verantwortung, die Erinnerung an den Holocaust und das Gedenken an die Opfer wachzuhalten". Das Erinnern sei Teil der nationalen Identität.
Nicht nur antisemitisches Handeln, sondern auch antisemitisches Denken und Reden müssten bekämpft werden. Dies sei Aufgabe jedes Einzelnen und der gesamten Gesellschaft. Niemals dürfe man sich daran gewöhnen, dass es in Deutschland für jüdische Bürger und deren Einrichtungen noch immer ein erhebliches Gefahrenrisiko gebe.

In der "für den Bundestag ungewöhnlich nachdenklichen Debatte" (Der Standard-Online, 11.12.03) wurde bedauert, dass es antisemitische Ressentiments nicht nur bei Randgruppen gebe, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sagte, nicht nur die Last der Vergangenheit verpflichte dazu, gegen den Antisemitismus und für eine offene, liberale Gesellschaft einzutreten. Thierse sprach von einer "unheilvollen Allianz" zwischen radikalen Moslems und Rechtsextremisten. Er und andere Redner/innen verwiesen auf die Schändungen jüdischer Friedhöfe und Übergriffe auf Juden in Deutschland.
Die Menschenrechts-Beauftragte der Regierung, Claudia Roth, sagte, gemeinsam müsse jeder Versuch zurückgewiesen werden, mit antisemitischen Ressentiments Stimmen zu fangen. Man müsse sich der deutschen Geschichte stellen. Die Nachkriegs- Generationen trügen keine Schuld am Holocaust, aber sie hätten eine besondere Verantwortung geerbt.
Unterstrichen wurde in der Debatte auch, dass Kritik an der Politik der israelischen Regierung nichts mit Antisemitismus zu tun habe.

Anlass der Debatte war die Affäre um den inzwischen aus der CDU/CSU-Fraktion ausgeschlossenen Abgeordneten Martin Hohmann. Er hatte am 3. Oktober in seinem Wahlkreis eine antisemitische Rede gehalten und die These propagiert, man könne die Juden im Kontext der russischen Revolution als "Tätervolk" bezeichnen. Der Bundeswehrgeneral Günzel, Chef des Kommandos Spezialkräfte (KSK), der sich demonstrativ mit Hohmann solidarisierte, wurde deshalb kurzerhand aus dem Dienst entfernt (zu den Vorgängen um Günzel-Hohmann siehe: Friedensbewegung begrüßt die Entlassung des Generals Günzel ...).

Nach: Der Standard (online), 11.12.2003



Im Wortlaut

Antisemitismus-Erklärung des Deutschen Bundestages

Mit den Stimmen aller Fraktionen hat der deutsche Bundestag am 11. Dezember 2003 folgende Erklärung zum Kampf gegen den Antisemitismus verabschiedet:

1. Der Deutsche Bundestag verurteilt jede Form des Antisemitismus. Antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben keinen Platz in Deutschland.

2. Antisemitismus war der geistige Nährboden für die beispiellose von Deutschland ausgegangene Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Wir haben die besondere Verantwortung, die Erinnerung an den Holocaust und das Gedenken an die Opfer wachzuhalten. Wir müssen uns auch künftig mit seinen Ursachen und Folgen auseinander setzen und die Wiederholung einer solchen Entwicklung ausschließen. Die Erinnerung an das Geschehene ist Teil unserer nationalen Identität.

3. Wir dürfen uns niemals daran gewöhnen, dass in Deutschland Jahrzehnte nach der Niederwerfung des Nationalsozialismus für jüdische Bürger und ihre Einrichtungen noch immer ein erhebliches Gefahrenrisiko besteht und beispielsweise die Grundsteinlegung für das jüdische Gemeindezentrum in München am 9. November 2003 nur unter schärfsten Sicherheitsmaßnahmen stattfinden konnte.

4. Der Deutsche Bundestag beobachtet mit großer Sorge, dass antisemitische Ressentiments nicht nur bei Randgruppen, sondern weit in die Gesellschaft hinein spürbar sind. Wer Stereotype und Versatzstücke nationalsozialistischer Propaganda aufnimmt und neu zusammenfügt, wer 'die Juden' sprachlich ausbürgert, indem er sie 'den Deutschen' gegenüberstellt und sie damit zu Fremden im eigenen Land macht, wer die Ermordung der europäischen Juden relativiert, steht außerhalb der demokratischen Wertegemeinschaft.

5. Unsere Pflicht ist es, antisemitisches Denken, Reden und Handeln zu bekämpfen. Dabei ist das Engagement jedes Einzelnen gefordert. Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständigung und des Verstehens ausbauen. Das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit muss so selbstverständlich sein, dass Bürger jüdischen Glaubens ohne Angst in Deutschland ihre Heimat haben. Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten ist eine Sache der gesamten Gesellschaft. Wo nötig, muss Antisemitismus mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates auch von Polizei und Justiz bekämpft werden.

6. Bildung und Erziehung müssen bei ihrer Aufklärungsarbeit in Familie, Schule und Gesellschaft die Fähigkeit vermitteln, Antisemitismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu erkennen und ihm im Alltag entgegenzutreten. Der herausragende Beitrag, den jüdische Bürger zur Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur in Deutschland geleistet haben, muss stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Der Deutsche Bundestag unterstützt alle Initiativen, die zur Vermittlung von Wissen über die deutsch-jüdische Geschichte beitragen und deutlich machen, dass jüdische Kultur ein bedeutender Teil unseres Landes war und ist.

7. Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland lehnt Antisemitismus entschieden ab. Sie weiß: Antisemitismus, Rassismus und die Diskriminierung von Minderheiten vergiften das gesellschaftliche Zusammenleben. Der Bundestag bekräftigt den Appell des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985: "Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander. Lassen Sie uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben. Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht. Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit."




Zurück zur Themenseite "Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus"

Zu anderen Bundestags-Debatten

Zurück zur Homepage