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Das ungeheure Drama

Das Tagebuch der Hélène Berr - ein Plädoyer für Menschlichkeit in Zeiten der Barbarei

Von Antonín Dick *

Als Jüdin stigmatisiert und ausgegrenzt, universalisiert sie gleichwohl ihr Schicksal, indem sie es als Teil des Schicksals aller Naziverfolgten begreift. Obwohl als Tochter einer großbürgerlichen Familie privilegiert, offenbart sie eine engagierte Brüderlichkeit, versucht zu leben wie »Leute aus dem Volk«. Als Frau in eine festumgrenzte Rolle hineingeboren, erweist sie sich als suchender Mensch, bemüht um menschliche Bindungen - auch und gerade im deutsch-faschistisch okkupierten Frankreich: »Die Freundschaften, die hier in diesem Jahr geschlossen wurden, sind geprägt von einer Aufrichtigkeit, einer Tiefe und einer Art ernster Zärtlichkeit, die kein Mensch je begreifen kann. Es ist ein Geheimpakt, besiegelt im Kampf und in den Prüfungen.« Im Strom dieser Prüfungen keimt eine Liebe. Ein nichtjüdischer Franzose polnischer Herkunft, der später in den bewaffneten Kampf gegen Hitler zieht, wird ihr Verlobter.

Hélène Berr erzählt von ihrem Leben im Schatten tagtäglicher Ängste, Demütigungen, berichtet von Verhaftung und Deportation. Unter Einsatz ihres Lebens arbeitete sie ab 1941 in der Entraide temporaire, einer Geheimorganisation zur Rettung jüdischer Kinder, der es im Großraum Paris gelang, rund 500 Jungen und Mädchen dem Zugriff der deutschen Faschisten zu entziehen. Sie studierte Anglistik, schloss 1942 mit einer Diplomarbeit über Shakespeare ab und begann mit einer Dissertation über den radikaldemokratischen Dichter John Keats (1795 - 1821). Von diesem inspiriert, wächst in ihr der Wunsch, vom Tagebuchschreiben zum literarischen Schreiben überzugehen, »die ganze Wirklichkeit aufzuschreiben und die tragischen Dinge, die wir erleben, indem man ihnen ihren ganzen nackten Ernst gibt, ohne etwas durch Worte zu verzerren«. Sie entwirft ein Programm, das für jeden Autor Richtschnur für politisch unkorrumpierbaren Schreibens sein dürfte.

Was heißt Faschismus? Ihre Antwort durchbricht die Grenzen im Nachdenken ihrer Zeit: Faschismus ist die Umwandlung der Zivilgesellschaft in ein System, in welchem erinnerungsabstinente Individuen, denen der Bezug zum Geistig-Politischen abtrainiert wurde, so funktionieren, dass keine gesellschaftlichen Widersprüche mehr auftreten. »Es ist ein entsetzliches Räderwerk«, schreibt sie, »und jetzt sehen wir nur noch die Ergebnisse ... Niemand denkt mehr an die ungeheuerliche Sinnlosigkeit, niemand sieht mehr den Ausgangspunkt, die erste Schraube in einem teuflischen Räderwerk.«

Die Verteidigung der sozialen Empathie wird von ihr an die oberste Stelle der Agenda des politischen Denkens gesetzt: »Nicht wissen, nicht verstehen, selbst wenn man Bescheid weiß, weil eine Tür in einem selbst geschlossen bleibt, jene Tür, wenn sie aufgeht, endlich den Teil begreifen läßt, den man bloß wusste. Das ist das ungeheure Drama dieser Epoche. Niemand weiß etwas von den Leuten, die leiden.« Erst aus der Fähigkeit zur sozialen Empathie entwickele sich politischer Widerstand: »Nicht Mitleid sollen sie aufbringen, sondern Verständnis, das Verständnis, das sie die ganze Tiefe, die Nichtreduzierbarkeit des Schmerzes der anderen, das ungeheure Unrecht dieser Behandlung spüren lässt und sie empört.«

Zusammen mit den Eltern Antoinette und Raymond Berr wurde Hélène am 23. März 1944 nach Auschwitz deportiert - an ihrem 23. Geburtstag. Die Mutter wurde am 10. April in die Gaskammer getrieben, der Vater im September von einem Arzt vergiftet. Paris ist befreit, als sie im November nach Bergen-Belsen verschleppt wird. Im April 1945 kann sie, von Typhus geschwächt, nicht mehr zum Appell antreten. Als ihre Leidensgenossinnen in die Baracke zurückkehren, liegt sie am Boden - erschlagen. Fünf Tage vor der Befreiung des Lagers durch britische Truppen!

Am 1. Mai 2008 bedankt sich ihr einstiger Geliebter, Jean Morawiecki, bei ihrer Nichte Mariette Job: »Sie haben mir die Aufregung und Freude beschert, von Herz zu Herz über meine verschwundene Verlobte zu sprechen.« Er stimmte der Veröffentlichung des Tagebuchs der Hélène Berr zu. Diese atemberaubenden wie erschütternden Aufzeichnungen waren im vergangenen Jahr das literarischen Ereignis in Frankreich.

Hélène Berr: Pariser Tagebuch 1942-1944. Carl Hanser Verlag, München 2009. 320 S., geb., 21,50 €.

* Aus: Neues Deutschland, 27. August 2009


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