Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nazis wandern in den Westen

Rassistische Übergriffe in Berlin nehmen zu / Verlagerung der Vorfälle in westliche Bezirke

Von Jenny Becker *

Rassistische Gewalt in der Hauptstadt nimmt wieder zu. Allerdings findet eine Verlagerung der Vorfälle statt: Im Osten gehen die Angriffe zurück, im Westen der Stadt steigt die Zahl.

Entgegen den Erwartungen ist die Zahl rechtsextremer Gewalttaten in der Hauptstadt wieder gestiegen. Das teilte die Opferberatungsstelle »Reach Out« am Mittwoch mit. Die Initiative registrierte im vergangenen Jahr 109 Angriffe mit rassistischem, antisemitischem, homophobem oder rechtsextremem Hintergrund. Im Vorjahr waren es noch 102. Nachdem die Zahlen in den vergangenen Jahren gesunken waren, sei man davon ausgegangen, bald Entwarnung geben zu können, erklärte Sprecherin Helga Seyb. Dies sei leider nicht der Fall.

»Reach Out« dokumentiert nur gewalttätige Übergriffe, reine Sachbeschädigungen oder Propagandadelikte sind nicht erfasst. Allerdings werden im Unterschied zu Polizeistatistiken auch solche Fälle einbezogen, die nicht zur Anzeige gebracht wurden. Von den Angriffen waren nach Kenntnis der Beratungsstelle 184 Personen direkt betroffen. Die Opfer litten häufig unter posttraumatischen Belastungssymptomen wie Schlafstörungen und Ängsten.

Zum ersten Mal seit der Gründung der Beratungsstelle vor zehn Jahren ist das Verhältnis der Angriffe im Berliner Osten (59) und Westen (50) annähernd gleich. Während die Zahl der Gewalttaten im Osten sinkt, nimmt sie im Westen zu. Laut Seyb könnte »Verlagerung« der Grund sein. »Möglicherweise ist es in den östlichen Bezirken besonders für Nazis ungemütlich geworden und sie sind gezwungen, sich andere Aktionsfelder zu suchen.« Das hänge mit den »guten Strukturen« in den östlichen Bezirken zusammen, etwa den vernetzten Bündnissen und der wehrhaften Zivilgesellschaft.

»Reach Out« geht vor allem in den westlichen Bezirken Berlins von einer hohen Dunkelziffer aus, da es dort kaum Anlaufstellen für Opfer oder Zeugen gebe und viele Fälle nicht erfasst würden. Seyb sieht dieses strukturelle Defizit als deutschlandweites Problem. Im Osten sei seit der Wende viel in Projekte gegen Rassismus investiert worden. Den Westen habe man dahingehend vernachlässigt. Das mache sich bemerkbar. »Viele Opfer aus ganz Deutschland rufen bei uns an und fragen nach Beratungsstellen in ihrer Nähe. Leider gibt es die kaum«, so Seyb. Bundesweit haben Opferverbände jüngst ihre Statistiken für 2010 bekannt gegeben. In Brandenburg ist die Zahl rechts motivierter Angriffe von 101 auf 108 leicht gestiegen. In Sachsen war mit 239 Fällen dagegen ein Rückgang um 24 Fälle zu verzeichnen. In Sachsen-Anhalt registrierte die Mobile Opferberatung 101 Gewalttaten, im Jahr zuvor lag die Zahl noch bei 111. Als besorgniserregend schätzte die Mobile Opferberatung jedoch den »massiven Anstieg rassistisch motivierter Gewalttaten« ein. Dieser lag in Sachsen-Anhalt bei 42 Prozent. Auch in Berlin war in über der Hälfte der Fälle Rassismus das Tatmotiv.

Einen Anstieg rassistischer Einstellungen für 2010 hatte auch Extremismusforscher Wilhelm Heitmeyer in der neunten Folge seiner bundesweiten Studie »Deutsche Zustände« festgestellt. Für die Mobile Opferberatung ist das ein Resultat der Integrationsdebatte. Durch die damit einhergehende Abwertung von Migranten fühlten sich Angreifer wohl zunehmend legitimiert.

* Aus: Neues Deutschland, 10. März 2011


Überall braun

Von Markus Drescher **

Fast 20 Jahre lang gefiel sich der Westen der Bundesrepublik in der Rolle des erhobenen Zeigefingers gen neue Bundesländer: Nazis sind ein Ost-Problem. Das sind sie zweifellos – genauso wie ein West-Problem. Dort gab und gibt es keinen Deut weniger rassistische, antisemitische, homophobe, alt- und neonazistische Einstellungen.

Doch den braunen Peter allein Ostdeutschland zuzuschreiben ist bequem, wenn es darum geht, sich die eigene Weste weiß zu schummeln. Das ist nicht nur gut fürs Image, sondern auch den Geldbeutel. Wo es keine Nazis gibt, braucht es keine Ausgaben für Landesprogramme gegen Rechtsextremismus und Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt.

Manchem passte diese geografische Aufteilung aber auch ins ideologische Konzept nach dem Motto: Natürlich gibt es im Westen kein Nazi-Problem, hier herrschen schließlich seit 1945 Demokratie und soziale Marktwirtschaft. Im Osten hingegen gab es 40 Jahre lang sozialistische Diktatur. Kein Wunder also, dass sich die Ossis zum »Totalitarismus« hingezogen fühlen. Nazis und Kommunisten sind doch sowieso fast das Gleiche.

War es nach der Wende tatsächlich der Osten, der erst lernen musste, sich gegen Nazis zu wehren – eine Aufgabe, die auch so schnell nicht beendet sein wird –, ist es jetzt der Westen, der sich eingestehen muss: Mit dem Finger auf andere zu zeigen und vom eigenen Nazi-Problem abzulenken, reicht bei Weitem nicht aus.

** Aus: Neues Deutschland, 10. März 2011 (Kommentar)


Zurück zur Seite "Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus"

Zurück zur Homepage